Die Natur des Fraktalen: Alles ist mit allem verbunden

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Fraktale sind ein besonderes Phänomen der Natur: In allen Lebensformen wiederholen sich bestimmte Muster je weiter man in die jeweilige Struktur eindringt – somit ist alles in allen Teilen widergespiegelt. Diese Selbstwiederholungen zeigen sich nicht nur in P...
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Die Natur des Fraktalen: Alles ist mit allem verbunden
Von Hans Boës, Berlin – raum&zeit Ausgabe 224/2020

Fraktale sind ein besonderes Phänomen der Natur: In allen Lebensformen wiederholen sich bestimmte Muster je weiter man in die jeweilige Struktur eindringt – somit ist alles in allen Teilen widergespiegelt. Diese Selbstwiederholungen zeigen sich nicht nur in Pflanzen, sondern auch in uns Menschen und sogar im Aufbau von Städten.
Der Autor Hans Boës zeigt auf, wie die Entdeckung der Fraktale uns ein neues Verständnis von der Natur und uns selbst geben kann.

Fraktale sind selbstähnlich

Ich arbeite seit einigen Jahren im Prinzessinnengarten in Berlin. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Urban-Gardening-Projekt, das beispielhaft eine Brachfläche im Zentrum von Kreuzberg als Grünfläche, als kleines urbanes Paradies bewirtschaftet. Als gelernter Wirtschaftsingenieur hatte ich bis dahin recht wenig mit Pflanzen zu tun. Die vielen Namen konnte ich mir ohnehin nie merken und waren mir immer ein Graus. Aber über die Jahre habe ich ein tiefes Gefühl für die Natur entwickelt. Und was mir als Ingenieur nach einiger Zeit auffiel war, dass viele der Pflanzen sogenannte fraktale Muster besitzen.
Fraktale sind eine Entdeckung der modernen Mathematik. Es sind wunderschöne Muster, die entstehen, wenn man rekursive Funktionen im Rechner darstellt. Rekursive Funktionen sind Rechenoperationen, bei denen das Ergebnis einer Rechnung durch das vorherige Ergebnis beeinflusst wird. Also im Grunde, als wenn sich die Katze in den Schwanz beißt – eine mathematische Rückkopplung.

Derartige Funktionen sind sehr rechenaufwendig und erst durch die Computertechnologie ist es gelungen, diese darzustellen. Abb. 1 links zeigt als Beispiel eine Julia-Menge (erstmals von Gaston Maurice Julia und Pierre Fatou beschrieben). Insbesondere das sogenannte „Apfelmännchen“ ist unter den Fraktalen zu einiger Berühmtheit gelangt und an ihm kann man sehr schön eine besondere Eigenschaft der Fraktale erkennen: Sie sind selbstreferenziell beziehungsweise selbstähnlich. Das heißt, dass sich ähnliche Strukturen immer wieder ergeben, auch wenn man immer weiter in die Struktur hineinschaut. Selbstähnlichkeit heißt letztlich: Alles ist in allen Teilen widergespiegelt.
Wenn Ihnen der Name „Apfelmännchen“ nichts sagt, schauen Sie doch einfach mal ins Internet. Dort finden Sie zahlreiche Animationen, die zeigen, wie sich bestimmte Muster in der Darstellung immer wieder wiederholen je  weiter man in die Struktur eindringt. Das ist die sogenannte Selbstähnlichkeit, auf die ich später no ch zu sprechen komme. Selbstähnlichkeit ist ein deutliches Anzeichen für fraktale Strukturen. Das Fantastische an Fraktalen ist, dass mit einer sehr einfachen Rechenregel sehr komplexe Strukturen geschaffen werden können. Und dieses Tricks bedient sich offenbar auch die Natur, denn wir finden fraktale Strukturen in allen Lebewesen und Lebensformen.

Die fraktale Natur

Ein wunderbares Beispiel für fraktale Strukturen in der Natur ist der Romanesco-Brokkoli (Abb. 2 rechts). Beim Romanesco ist die Selbstähnlichkeit der Strukturen offensichtlich. Jede der Knospen besteht wieder aus kleineren Knospen, die wieder aus kleineren Knospen zusammengesetzt sind. Genau das nennt man „selbstähnlich“. Oder sehen Sie sich zum Beispiel einmal das Blatt eines Farns genauer an. Sie werden feststellen, dass die einzelnen Blätter des Farns dieselbe Struktur haben wie das ganze Blatt – also selbstähnlich oder auch selbstreferenziell sind. Abbildung 3 (links) zeigt ein mathematisch konstruiertes Farnblatt.
Eine spezielle Form der Fraktale sind die sogenannten Lindenmayer-Systeme, die auch in der Grammatik eine Rolle spielen. Mit diesen Lindenmayer-Systemen lassen sich heutzutage Pflanzenstrukturen sehr gut nachbauen.

Die Gräser in der Abbildung 4 (links) sind alle rein mathematisch konstruiert. Wir können also mittels fraktaler Rechenoperationen – die bereits erwähnten Lindenmayer-Systeme – sehr einfache Strukturen in der Natur nachbilden. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die Natur fraktale Strukturen nutzt, um sich mittels einfacher wiederholbarer Regeln zu materialisieren, also materielle Strukturen im Raum zu schaffen.

Lindenmayer-Systeme wurden ursprünglich vom theoretischen Botaniker Aristid Lindenmayer eingeführt, um die Entwicklung einfacher mehrzelliger Organismen zu modellieren. Sie werden heute häufig zur Modellierung von Pflanzen genutzt (Abb. 5 rechts). In den Formalismus wurden verschiedene Erweiterungen wie stochastische, parametrische und kontextsensitive Systeme eingeführt, die die Modellierung von Wachstum und komplexen Wechselwirkungen von Pflanzenorganismen untereinander und mit der äußeren Umgebung ermöglichen. Kleine Änderungen an diesen Regeln führen oft zu unerwarteten, aber ästhetisch faszinierenden Ergebnissen.
Nehmen wir als nächstes einen Baum, auch hier lassen sich die Strukturen mittels einfacher Rechenregeln nachbilden (s. Abb. 6 links).

Zahlreiche Strukturen von Lebewesen lassen sich mit fraktalen Strukturen abbilden. Die Natur nutzt also fraktale Operationen, um mittels sehr einfacher wiederholbarer Regeln sehr komplexe Strukturen aufzubauen. Dabei ist vor allem entscheidend, dass diese fraktalen Operationen erlauben, durch kleinste Änderungen in den Ausgangsbedingungen (Mutationen) völlig neue und unerwartete Ergebnisse zu produzieren. Eine wichtige Voraussetzung für die Optimierung der Evolution.

Der fraktale Mensch

Einen fraktalen Aufbau finden wir auch im Menschen. Auch wir sind selbstreferenziell organisiert: Alles ist in allem widergespiegelt. So sind etwa die Reflexzonen des Menschen ein Abbild des gesamten Körpers. Sowohl im Fuß als auch in der Hand oder dem Ohr kann man den  gesamten menschlichen Körper energetisch wiederfinden und so behandeln (Abb. 7 links). Auch die Irisdiagnose geht davon aus, dass sich im Auge der gesamte Mensch abbildet. Alle sogenannten „ganzheitlichen“ Methoden der Medizin gehen davon aus, dass der Mensch ein „selbstreferenzielles“ System, also fraktal organisiert ist.

Aber nicht nur an den Reflexzonen kann man die fraktale Struktur des Menschen erkennen. Auch das Wurzelgeflecht seiner Adern ist ein deutliches Zeichen für einen fraktalen Aufbau (Abb. 8 rechts).

Die fraktalen Städte

In der Struktur unserer Städte finden wir ebenfalls fraktale Eigenschaften. Dazu kann man einen sogenannten „Schwarzplan“ verwenden, der nur Hochbauten darstellt. Schaut man sich einmal den Schwarzplan von Berlin an (Abb. 9 links), dann sieht man immer wiederkehrende rechteckige Muster, die in eine gewachsene Struktur der Verkehrswege eingepasst werden. Würde man weiter in den Plan hineinzoomen, dann erhielte man immer wieder rechteckige Strukturen – von den Straßenblöcken über die einzelnen Häuser, dann die Räume bis hin zu den Ziegelsteinen. Auch hier wieder eine selbstähnliche Struktur.

Noch deutlicher zeigt sich die gewachsene fraktale Struktur am Beispiel von Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam. Die Stadt breitet sich wie ein Wurzelgeflecht entlang der Kanäle aus (Abb. 10 rechts). Unsere Städte sind gewachsene Strukturen, die denselben Gesetzmäßigkeiten gehorchen wie alles Leben in  der Natur. Ich vergleiche die Städte oft mit Zellen. Genau wie die Zellen haben Städte verschiedene Kraftwerke (Mitochondrien), ein Verkehrs- und Transportsystem (endoplasmatisches Retikulum), Produktionsstätten (Ribosomen und Golgi-Apparat), Transportgefäße (Vesikel), Polizei und Krankenwagen, die auch gegen den Strom schwimmen können (weiße Blutkörperchen), eine Stadtverwaltung (Zellkern), einen Stoffwechsel (Metabolismus) sowie Reproduktion und Wachstum. Die Städte sind letztlich dissipative, also sich selbstorganisierende Strukturen, genau wie alles Leben.

Myzel Menschheit

Wir unterliegen genau denselben Gesetzen, wie sie für alle Lebewesen gelten. Leben geschieht immer weitab vom thermodynamischen Gleichgewicht. Wir müssen der Entropie – dem ständigen Zerfall – ein Schnippchen schlagen, indem wir mehr Ordnung aufbauen als von ganz alleine wieder verfällt.
Genau wie die Natur bedienen wir uns dabei bestimmter Energieressourcen. Derzeit basiert unser Überleben auf den in Jahrmillionen eingelagerten Kohlenstoff-Vorkommen. Die Natur arbeitet dagegen ausschließlich mit Sonnenenergie, die reichlich vorhanden ist und insgesamt ein dauerhaftes Dasein – ohne Abfall und ohne Selbstvergiftung – garantiert.

Schaut man sich die menschliche Zivilisation aus dem All einmal nachts an, so sieht man eine pilzartige Wucherung. Einen Licht-Pilz, der die Erde überwuchert wie der Schimmelpilz einen Laib Brot (Abb. 11 links). Dieser Licht-Pilz ist quasi erst in den letzten 150 Jahren wirklich in seiner heutigen Form entstanden und hat seither die Erde sehr erfolgreich überwuchert. Wie ein Myzel durchdringen die Versorgungsadern die Landschaft, werden die Kohlenstoff-Lagerstätten durch Maschinenanlagen und Röhrensysteme aufgesogen und weiter verarbeitet.
Letztlich verwandelt dieser Licht-Pilz „Menschheit“ alles zu sich, genau wie der Schimmelpilz auf dem Brot. Wir glauben zwar immer, dass wir „bewusst“ handeln, letztlich wachsen wir aber nur wie jede andere Art auch, bis wir an die Grenzen stoßen.Wir sind Teil eines neuen Makro-Organismus, der sich jetzt gerade neu entwickelt. Wir erleben so etwas wie die Entstehung einer neuen Art: das „Myzel Menschheit“.
Und dass dies noch nicht optimal läuft, liegt vor allem daran, dass wir erst seit etwa 150 Jahren langsam und kontinuierlich dem Hunger und der Knappheit entronnen sind. Erst seit kurzem haben wir das Problem, dass es vielleicht einmal zu viele Menschen auf der Erde geben könnte. Denn erst der Homo Sapiens hat es tatsächlich geschafft, nicht wie alle seine Vorgänger auszusterben. Das ist natürlich eine völlig neue Situation und unser Denken und Handeln, das bisher auf den Kampf gegen die Natur und auf beschleunigtes Wachstum ausgerichtet war, muss sich jetzt umstellen. Auf Symbiose, auf Einpassen in die Natur, auf die „sanfte Entschleunigung“.

Resonanz und Selbstorganisation

Kommen wir noch einmal zurück zum Vergleich der Stadt mit einer lebendigen Zelle: Wie schon Fritz-Albert  Popp im letzten Jahrhundert formulierte, sind Lebewesen – biophysikalisch betrachtet – wahrscheinlich ideale Resonanzkörper, die sich im Laufe der Evolution im elektromagnetischen Feld zu immer größeren und komplexeren Einheiten zusammengeschlossen haben. Popp sah Lebewesen als eine Organisationsform, der es gelungen ist, mittels ultraschwacher elektromagnetischer Resonanzen einen hochorganisierten Komplex zu bilden, der sehr flexibel auf äußere Umweltbedingungen reagieren kann.
Wenn wir nun Fraktale als immanente Struktur aller Lebewesen erkennen, so kommen wir zu einem weiteren Punkt, der erstaunliche neue Möglichkeiten in der Selbstorganisation des Menschen offenbart. Fraktale haben eine besondere elektromagnetische Eigenschaft. Sie sind ideale Antennenstrukturen – also elektromagnetische Resonanzkörper. Ich habe an anderer Stelle bereits ausführlich darüber berichtet.
Wenn meine These stimmt, dass der Ansatz von Popp auch im zwischenmenschlichen Bereich zu elektromagnetischer Kommunikation und Organisation führt, dann sind wir in den Städten alle miteinander verbunden. Alle schwimmen mit in den Gefühlen der anderen. Mitfühlen ist ein elektromagnetisches Resonanzphänomen, eine ultraschwache Laser-Kommunikation im Radiowellen-Bereich. 
Wenn wir uns das bewusst machen und vielleicht auch lernen bewusst einzusetzen, können wir damit eine neue Stufe des kollektiven Zusammenlebens erreichen. Wir sind alle miteinander verbunden – ganz automatisch. Und wir können lernen, dass wir nicht nur eine gemeinsame Menschheitsfamilie sind, sondern Teil des Gaja-Projekts, eines Menschheitsprojekts, das nicht die Natur zerstört, sondern umgekehrt die Natur bereichert.

Was wir von der Natur lernen können

Wie bereits erwähnt, nutzt die Natur vor allem die Sonnenenergie, die  überreichlich vorhanden ist. Von daher kann die Natur auch ohne Abfall existieren, denn mithilfe der Sonnenenergie hat die Natur ein perfektes Kreislaufsystem geschaffen.
Die Natur schafft im Laufe der Jahre sogar ökologischen Mehrwert, den Humus. Das ist so etwas wie eine Kapitalrücklage für schlechte Zeiten. Auf diese Weise kreiert sich die Natur ihre idealen Umgebungsbedingungen also von ganz alleine.
Das liegt ganz einfach am 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Wer nur regenerative Energiequellen nutzt, der muss keinen Abfall oder Abgas produzieren. Auch wir können unsere Welt zu Reichtum führen, wenn wir genau wie die Natur die regenerativen Energien nutzen lernen und dadurch Abfall-los leben. Wenn wir von der Natur lernen, kann uns das auch gelingen. Die Voraussetzungen sind ideal. Wir haben inzwischen genügend Wissen angesammelt, um unsere Gesellschaft in eine naturnahe, nachhaltige Kreislaufwirtschaft zu wandeln. Wir müssen nur weiter daran arbeiten. Und vor allem jetzt aktiv werden.

Literatur

Bertalanffy, L. v.: „Zu einer allgemeinen Systemlehre“, in: Bleicher, K. (Hrsg.): „Organisation als System“. Wiesbaden 1972, S. 31 ff.
Boës, Hans: „Alles fühlt mit. Fühlen ist das Wahrnehmen der Symphonie des Lebens“. 26.4.2018. https://www.rubikon.news/artikel/alles-fuhlt-mit
Boës, Hans: „Auf der Suche nach dem mehrfachen Mehrwert“. 18.10.2019. https://www.rubikon.news/artikel/auf-der-suche-nach-dem-mehrfachen-mehrwert
Leopold, Nico: „Algorithmische Botanik durch Lindenmayer-Systeme“, in Blender 2017. https://www.semanticscholar.org/paper/Algorithmische-Botanik-durch-Lindenmayer-Systeme-in-Leopold/526d99427b66c52534277895ad35eda17c-3f9e7e
Nicolis, G. and Prigogine, I.: „Self-Organization in Nonequilibrium Systems, Wiley-Interscience“. New York 1977.
Popp, Fritz-Albert: „Biophotonen“. Paul Parey 1984.
Rechenberg, Ingo: „Evolutionsstrategie ´94“. Frommann-Holzboog, Stuttgart 1994.
Weber, Andreas: „Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften“. thinkOya 2014.

Der Autor

Dipl.-Ing. Hans Boës
Zukunftsforscher und Zukunftsgestalter. Derzeit arbeitet er am mehrfachen Mehrwert im Prinzessinnengarten in Berlin-Kreuzberg.
Weitere Info unter www.hansboes.com
Kontakt unter hbo@prinzessinnengarten.net

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