Die Heilkraft der klassischen Musik

Imaginative Psychotherapie mit Musik nach Dr. Helen Bonny

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Als seine geliebte Gattin Eurydike gestorben war, stieg Orpheus in die Unterwelt herab, um sie zurück zu erbitten. Als er dort von seiner unendlichen Liebe zu der Verstorbenen und von seinem unermesslichen Schmerz sang, erweichte er selbst die Rachegöttinnen und das finstere Herrscherpaar des...
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Die Heilkraft der klassischen Musik
Von HP (psych.) Andreas Klaus, Berlin – raum&zeit Ausgabe 156/2008

Als seine geliebte Gattin Eurydike gestorben war, stieg Orpheus in die Unterwelt herab, um sie zurück zu erbitten. Als er dort von seiner unendlichen Liebe zu der Verstorbenen und von seinem unermesslichen Schmerz sang, erweichte er selbst die Rachegöttinnen und das finstere Herrscherpaar des Hades – Musik dringt in die verborgensten Winkel der Seele und kann dort heilend wirken. Diese Eigenschaft nutzt die imaginative Psychotherapie mit Musik nach Dr. Helen Bonny (Guided Imagery and Music, GIM).

Musik bewegt

Haben Sie das auch schon einmal erlebt? Auf Ihrem alltäglichen Weg zur Arbeit oder zum Einkauf erklingt plötzlich eine Melodie. Sie fühlen sich angesprochen und berührt, herausgerissen aus dem Alltagstrott und bleiben unwillkürlich stehen. Eine Straßenmusikantin mit Geige spielt ganz in sich versunken eine Weise, die einen betörenden Zauber hat. Die Reinheit und Magie der Töne nimmt Sie so gefangen, dass nichts anderes mehr wichtig ist als zuzuhören und zu verweilen. Sie sind schon längst nicht mehr allein. Die Mutter mit dem Kind, der ältere Herr neben Ihnen fühlen Ähnliches. Die Gesichter werden liebevoll und weich, Sehnsuchtsgefühle und Erinnerungen steigen auf. Im Kreis der Anwesenden wird ein unsichtbares und verbindendes Feld spürbar, das sich nach Ruhe und Geborgenheit wie aus einer anderen Welt anfühlt. Sie spüren, wie sich eine wärmende Energie in Ihnen ausbreitet und Ihr Herz eine Öffnung und Weite bekommt, wie Sie sie lange nicht mehr wahrgenommen haben. In einigen Gesichtern sind Rührung und Tränen zu sehen. Eine erlösende Glückseeligkeit hat die Menschen verwandelt.
All dies ist in wenigen Minuten geschehen.
Musik bewegt die meisten Menschen tief. Es verwundert daher nicht, dass sie auch in der Medizin eine Rolle spielt. Die Idee der Verbindung von Musik und Heilkunst ist keineswegs neu. Ägyptische Papyri sprechen ebenso von Musik und Heilkunst wie die Bibel, die griechische Tradition oder die vielen Stammesriten einfach lebender Völker, die ihre Heilkunst in schamanischen Traditionen überliefert haben.
Die moderne Musiktherapie entstand in den USA, wo nach dem Zweiten Weltkrieg Musiker systematisch bei der Rehabilitation von Kriegsveteranen eingesetzt wurden und 1950 die erste Gesellschaft für Musiktherapie, die National Association of Music Therapy (NMAT) gegründet wurde. Ganz allgemein unterscheidet man aktive (Musik machen) und passive (Musik hören – rezeptiv = aufnehmend) Musiktherapie.

Musik hilft schwer Kranken aber auch Gesunden

Man hat Musiktherapie bei den unterschiedlichsten Erkrankungen eingesetzt und es ist erstaunlich, dass sie nicht selten gerade von schwer kranken Menschen als wohltuend empfunden wird und nach Meinung einiger Untersucher sogar für Patienten im Koma geeignet ist. Bewährt hat sie sich außerdem bei Menschen mit Schmerzen, Ängsten und hohem Stresspegel. Untersuchungen zeigen, dass bei diesen Medikamente eingespart werden können, wenn sie regelmäßig ausgesuchte Musik hören. Bei Patienten, bei denen herzchirurgische Eingriffe durchgeführt werden mussten, vermochte Musiktherapie beispielsweise in der Periode während der Operation die Angst zu reduzieren. Auch bei Herzinfarktpatienten lässt sich durch Musiktherapie der Teufelskreis aus Angst, vegetativer Anspannung und weiterer Belastung des Herzens durchbrechen.
Depressiven kann Musiktherapie dazu verhelfen, sich emotional wieder angesprochen zu fühlen, insbesondere dann, wenn die Symptomatik so weit fortgeschritten ist, dass die Betroffenen über das so genannte „Gefühl der Gefühllosigkeit“ klagen, dass sie also nicht einmal mehr Traurigkeit
spüren können. In solchen Fällen vermag die Musik noch eine „Phase der Seele zu berühren“ die sich mit Gesprächen oder auf andere Weise nicht mehr bewegen lässt.1

C G Jungs Gespür für Musik

Auch C. G. Jung hat in seinen letzten Lebensjahren vertiefende Erfahrungen mit dem Einsatz von Musik im Rahmen seiner Forschungsarbeit machen können. Die amerikanische Musiktherapeutin Margaret Tilly hatte ihm ihre Arbeit mit Musik vorgestellt.
Sein überzeugtes Resümee dazu hat er in folgenden Sätzen zusammengefasst:
„Die Musiktherapie eröffnet eine ganz neue Forschungsrichtung, von der ich mir nie hätte träumen lassen. Vor allem das, was ich konkret erlebt und gefühlt habe, lässt mich fühlen, dass Musik von jetzt an ein wesentlicher Bestandteil einer jeden Analyse sein müsste. Sie gelangt zu tiefem, archetypischem Material, zu dem wir in unserer analytischen Arbeit mit Menschen nur selten gelangen. Dies dünkt mich äußerst beachtenswert“.2

Die Wurzeln der imaginativen Musiktherapie

Genau hier setzt die musiktherapeutische Methode „Guided Imagery and Music“ (GIM) an. Ihrem Wesenskern nach handelt es sich um eine Gefühlstherapie für Herz und Bauch, mit der man Bereiche des Unbewussten erkunden kann, die mit einer normalen Gesprächstherapie kaum ans Licht gebracht werden können.
GIM ist eine rezeptive Musiktherapie und wurde in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von Dr. Helen Bonny, studierter Musiktherapeutin und Geigerin, in den USA entwickelt. Die heute 82-Jährige wuchs in einer sehr musikalischen Familie im US-Bundesstaat Kansas auf. Bereits mit fünf Jahren erlernte sie das Klavier– und Geigenspiel. Zunächst studierte sie Musik, wurde Geigenlehrerin und spielte viele Jahre im Salina Sinfonie Orchester in Kansas.
Im September 1948 führte ein besonderes Erlebnis zu einer entscheidenden Wende in ihrem Leben. Sie wurde während eines Seminars, bei dem es um die Kraft des Gebets ging, gebeten, abends ein kleines Konzert zu geben. Sie spielte ein Stück aus dem Karneval der Tiere von Camille
Saint–Saens, und zwar den Schwan. Wie sie selbst berichtet, hatte sie hierbei ein Erlebnis von überirdischer (transpersonaler) Dimension. Nicht sie spielte die Geige, sondern ihr war, als ob sie und ihr Spiel von fremder Hand geführt werden. Nicht nur sie, auch die Zuhörer hatten dies bemerkt, was sich in minutenlanger Stille nach Beendigung des Stückes äußerte.
Dieses Schlüsselerlebnis war für sie der Anlass zu realisieren, welches Potential, den Menschen mit einer überirdischen Kraft zu verbinden, in der Musik liegt. So entschied sie sich, bereits 40-jährig, zu einem Studium der Psychologie und ließ sich zur Musiktherapeutin ausbilden.2
Als Bezugsrahmen für GIM fand Bonny die humanistische und analytische Psychologie passend, für die hier Namen wie C. G. Jung, Stanislav Grof, Abraham Maslow, und Carl Rogers anzuführen sind. Im Ergebnis stellte sie fest, dass Musik nicht nur ein Weg war, unbewussten Konflikten zu begegnen und sie zu bewältigen, sondern, dass sie auch heilsame und nährende Erfahrungen auslösen kann, so genannte „peak-experiences“ (Gipfelerfahrungen) wie Abraham Maslow diese nannte. Darunter sind existenziell wichtige Überschreitungen des Alltagsbewusstseins zu verstehen, ur-menschliche Erfahrungen, die ein erhebliches Heilungspotential in sich bergen. Damit umfasst GIM auch das Potential der transpersonal-spirituellen Bewusstseinsdimension.

Wie eine GIM Reise verläuft

Die Struktur einer GIM–Reise 5 ist wie folgt aufgebaut und dauert circa 1½–2 Stunden:
1. Das Vorgespräch
Das Vorgespräch soll klären, um welches Thema es in der heutigen Sitzung gehen soll. Generell werden Probleme und Konflikte aus dem Privat- und Arbeitsleben, Wünsche und Ziele, aber auch Traumgeschehen vorgetragen. Der Therapeut lenkt dabei bereits jetzt die Aufmerksamkeit des Klienten auf denjenigen emotionalen Gehalt des Themas, der für den Klienten die stärkste Bedeutung und Kraft spürbar werden lässt. Auf diesen emotionalen Gehalt hin wird der Fokus des Klienten ausgerichtet.
2. Entspannungsinduktion – Trance
In der Trance können sich wie durch ein geöffnetes Fenster die verschiedensten Manifestationen des Unbewussten zeigen. Typische Merkmale sind eine veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit, eine deutliche Sensibilisierung von Körperwahrnehmungen und Gefühlen sowie eine verstärkte Sinneswahrnehmung.
Die Gehirnwellenfrequenz wechselt vom Beta-Zustand des Tagesbewusstseins in den wesentlich langsameren Alpha-Zustand. Bei GIM wird daher die Aufmerksamkeit des Klienten auf die innere Wahrnehmung hingeführt, ohne dass er dabei das normale Wachbewusstsein verliert. Dies ist deshalb wichtig, weil der Klient zum einen seine Wahrnehmungen während der Musik-Imaginationsreise dem Therapeuten unmittelbar mitteilen soll. Zum anderen ist damit auch das generelle Ziel der therapeutischen Arbeit, nämlich den Klienten immer mehr zum Herren seines eigenverantwortlichen Handelns werden zu lassen, gewährleistet. Dies ist nur dann möglich, wenn der Klient seine Achtsamkeit für seine ganz persönlichen inneren Wahrnehmungen bewusst zu schulen lernt.
3. Die Musik – Imaginationsreise
In der Regel finden Induktion und Musik–Imaginationsreise im Liegen statt. Der Klient berichtet von seinen inneren Wahrnehmungen und der Therapeut begleitet ihn non–direktiv. Diese Kunst der Begleitung ist enorm wichtig. Der Therapeut hilft dem Klienten, sich auf das Erlebnis einzulassen, unterstützt die emotionalen Äußerungen, hilft zu vertiefen und ist präsent während schwieriger Situationen. Außerdem protokolliert er das Gesagte. Generell ist es wichtig, dass die Präsenz des Therapeuten während des gesamten therapeutischen Prozesses von den Prinzipien der Akzeptanz und Empathie (Rogers) getragen wird. Er muss daher ein zutiefst intuitives Gespür für das Erleben des Klienten entwickeln. Denn an genau diesem emotionalen Erleben im Hier und Jetzt sind seine Interventionen im Gespräch ausgerichtet. Die wichtigste Leitlinie dieser Gesprächsführung lautet, den Klienten niemals in den Kopf zu führen, sondern ihn in seinem emotionalen Erleben beziehungsweise Imaginationen zu halten, zu unterstützen und zu vertiefen.
4. Nachgespräch
Das Malen eines Mandalas soll zunächst die Nachschwingungen der Trance nutzen und dem Klienten die Möglichkeit geben, sich intuitiv und spontan auszudrücken.
Als Vorlage dient ihm ein Mandalakreis als Symbol für das Selbst. Der Klient erhält die Erlaubnis, das Blatt frei zu gestalten und mit den Farben kreativ umzugehen. Das Kreisbild bringt meist eine Zusammenfassung des Erlebten in symbolisch verdichteter Form sichtbar zum Ausdruck.
Sodann erhält der Klient die Einladung, das Wahrgenommene und das Mandala im Gespräch zu betrachten und für sich im Zusammenhang mit seinem Alltagserleben zu deuten.

Die Macht der inneren Bilder

Bereits unsere Sprache macht überdeutlich, dass innere Bilder unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. So machen wir uns ein Bild von einem Sachverhalt, bekommen in der Schule Bildung vermittelt, suchen uns Vorbilder, orientieren uns an Leitbildern, sprechen von einem Mannsbild oder Weibsbild und bilden uns auf unser Wissen bisweilen einiges ein.
Wir sehen die Welt so, wie es unseren inneren Vorstellungsbildern entspricht. Es gibt kein Leben ohne innere Bilder und wir leben in einer Orientierung, Ordnung und Sicherheit stiftenden Matrix aus Bildern. Wir erschaffen uns unsere Welt entsprechend unseren Vorstellungen. Da gibt es die das Selbstbild prägenden negativen Vorstellungen und Glaubenssätze mit verheerenden Auswirkungen wie zum Beispiel „Ich bin nicht gut genug“ oder „Das schaff ich sowieso nicht“ oder „Ich tauge sowieso zu nichts“.
Nur wenn wir uns der Herkunft und der Macht dieser Bilder bewusst werden, können wir auch darüber nachdenken, wie wir es anstellen, dass künftig wir die Bilder und nicht die Bilder uns bestimmen.3
Es geht darum, dass wir die Tür zu diesem dunklen Raum der Selbsterkenntnis öffnen.
Welche Macht die Vorstellungskraft haben kann, hat der Psychoonkologe Carl Simonton gezeigt, indem er bei Krebspatienten die Arbeit mit positiven, die Selbstheilungskräfte und damit das Immunsystem stärkenden Imaginationen einführte. Seine Studienergebnisse hierzu ergaben, dass sich die Zahl der Langzeitüberlebenden erhöht, die erwartete Überlebenszeit sich verdoppelt und die Lebensqualität wie auch die Qualität des Sterbens verbessert werden.
Wenn Psychotherapeuten sich darum bemühen, die bisherigen Überzeugungen, Haltungen und Einstellungen eines Menschen zu verändern, so arbeiten sie an diesen inneren Mustern und versuchen, sie umzuformen. Therapeuten versuchen, andere Menschen in die Lage zu versetzen, Sicherheit bietende innere Bilder wachzurufen, wenn Angst erzeugende Bilder übermächtig und damit denk- und handlungsbestimmend zu werden drohen. Und sie versuchen, zu eng und übermächtig gewordene innere Bilder, die das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen in immer enger werdende Sackgassen leiten, wieder zu öffnen, aufzulösen, weiter und lockerer zu machen.

Neurobiologische Veränderungen durch neue innere Bilder

Imagination und Bewusstsein sind wesentliche Begriffe in der imaginativen Psychotherapie mit Musik nach Helen Bonny. Mit Imagination wird hier die Gesamtheit aller Erlebnisse bezeichnet, die von der Musik ausgelöst werden können.
Dabei geht es nicht nur um Bilder im engeren Sinne, sondern um ein breites Spektrum von Wahrnehmungen, wie Körperempfindungen, Gefühle und Affekte. Im leicht veränderten Wachbewusstseinszustand (Trance) stellen sich Bewusstseinsströme ein. Die dabei spontan auftretenden Imaginationen können als Manifestationen des Unbewussten eingestuft werden und Ausdruck innerer Konflikte oder Wünsche etc. sein.
Aus der psychotherapeutischen Arbeit kennen wir zur Genüge Klienten, die ohne einen organischen Befund über Kopfschmerzen, Engegefühle im Brustbereich oder den berühmten „Kloß im Hals“ klagen. Bei GIM, wie auch bei Wahrnehmungstrainings, wird die Achtsamkeit des Klienten
gezielt zum Beispiel auf solche Symptome gelenkt. Allein dadurch können Veränderungen im Gehirn angeregt werden, wie eine wissenschaftliche Beobachtung von Patienten mit Phantomschmerzen gezeigt hat.
Die Hirnforscherin Prof. Herta Flor hält dazu fest: „Wir können tatsächlich die Verarbeitung von einem Schmerz im Gehirn durch unsere Gedanken und unsere Vorstellungen beeinflussen. Und dann ändert sich auch physiologisch etwas im Gehirn. Es ändern sich auch tatsächlich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Man kann sie verstärken oder abschwächen und dies hat dann auch eine Wirkung auf das, was wir empfinden.“4
Das Gehirn ist nicht statisch, sondern verändert sich ständig. Es verarbeitet bestimmte Reize immer wieder neu und passt sich dabei den Bedingungen und Gegebenheiten der Umgebung an. Dadurch verändern sich die Stärken der Verbindungen zwischen den Nervenzellen in den betreffenden Bereichen der Gehirnringe. Ganze Strukturen können sich verändern, wenn jemand dauerhaft Musik hört oder spielt. Untersuchungen belegen, dass das Corpus Callosum, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet, bei professionellen Musikern bis zu 15 Prozent dicker ist. Musik hat eine große Wirkung auf das limbische System, das als Tor zur Emotion bezeichnet werden kann. Im limbischen System liegen die Zentren, die das emotionale Verhalten und dessen Verknüpfung mit vegetativen Organfunktionen steuern. Hier werden alle ankommenden sensorischen Signale, wie zum Beispiel Musik, mit den bereits vorhandenen gespeicherten Informationen verglichen und emotional bewertet.1
Die neuesten Forschungsergebnisse der Neurobiologie haben nachweislich festgestellt, dass sich die alten belastenden Muster mit neuen positiven Erfahrungsmustern überschreiben lassen. Genau dies ist in der Arbeit mit GIM möglich. Dabei nimmt die Klassische Musik die Rolle einer starken Co–Therapeutin ein.

Warum Klassische Musik

In ihrer Forschungsarbeit kam Helen Bonny zu dem Ergebnis, dass Klassische Musik für die Zwecke der therapeutischen Arbeit am besten geeignet ist. Sie dient nicht der Ablenkung oder Entspannung, sondern kann in vielfältiger Weise das Spektrum der menschlichen Seele mit all ihren Untiefen und Facetten hervorragend reflektieren.
Nach Bonny kann Musik während der Imaginationsreise verschiedene Funktionen wahrnehmen.5
Einige wichtige sind:
• sie kann Katalysator, Behälter oder Symbol für etwas sein,
• sie kann in Kontakt bringen mit Gefühlen und (frühkindlichen) Atmosphären, diese spürbar machen, intensivieren oder zu einer katarsischen Entladung führen,
• sie kann in Kontakt bringen mit dem eigenen Körper und alle Sinne erfahrbar machen,
• sie kann eine Richtung weisen oder ein Gefühl für Bewegung vermitteln,
• sie kann Sicherheit und Halt geben sowie Struktur und Ordnung vermitteln,
• sie kann als Übertragungsobjekt/Projektionsfläche fungieren,
• sie kann Energie und Kraft spürbar werden lassen,
• sie kann Heilung, Lösung und Einsicht bringen und
• sie kann in Kontakt bringen mit dem Vorsprachlichen und dem Unaussprechlichen und Raum geben für Sinnfragen und spirituelle Erfahrungen.
In gewisser Weise ist klassische abendländische Musik künstlerischer Ausdruck für existentiell bedeutsame Erfahrungen des Menschseins und bietet die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit archetypischen Themen, wie zum Beispiel Geburt, Liebe, Trauer, Tod.
In der Therapie hängt die Musikauswahl von verschiedenen Kriterien ab. Maßgeblich sind vor allem der therapeutische Prozess, der bisherige Therapieverlauf, der Stand der aktuellen therapeutischen Beziehung, die Art der Störung, die Tagesform des Klienten und des Therapeuten, die Thematik der Sitzung und der gewählte Fokus.5
Die Musikprogramme von circa 30 Minuten Länge in GIM sind nach bestimmten Themenbereichen wie zum Beispiel Tod, Trauer, Abschied, Ärger, Beziehungen, etc. so zusammengestellt, dass Entwicklungen psychodynamischer Art ermöglicht werden, die einem seelischen Verarbeitungsprozess entsprechen. Es kommen Werke verschiedenster Komponisten wie zum Beispiel Bach, Mozart, Brahms, Debussy und Pärt zur Anwendung. Die Musik wird grundsätzlich nach der gegenwärtigen Gefühlslage des Klienten und dem von ihm genannten Thema ausgewählt.
Die Musik unterstützt dann die Gefühlsbewegungen des Klienten. Denn ein verknotetes Weinen kann umso besser gelöst werden, wenn der Klient mit dem musikalischen Crescendo und der Intensitätssteigerung mitweinen kann, sozusagen angesteckt wird. Aber Musik bietet zugleich auch den sicheren Raum für das Auffangen der Gefühle, die Musik bleibt nicht beim Schluchzen stehen, sondern wird diese Gestalt schließen – Musik trägt unsere Gefühle durch die notwendige Zeit.

Der Fluss der Wahrnehmung und der Fluss der Musik

Auffallend ist, dass Bewusstseinsströme, das heißt, das Fließen der menschlichen Erfahrung in Imaginationen und Träumen, der Musik ähnlich ist, die ebenfalls nur im zeitlichen Fluss zu erleben ist. Musik ist ein fließender Prozess, der ebenfalls in einem fließenden Imaginationsprozess
erlebt wird. Die dabei auftauchenden Bilderfolgen sind Bewusstseinsinhalte, die das Unbewusste frei gibt. Musik besitzt das Potenzial, den Imaginationsprozess auszulösen, zu stimulieren, zu strukturieren, zu vertiefen und in der ihr eigenen Dynamik weiterzuentwickeln. Ein bestimmtes Musikstück kann eine vergessene Kindheitserinnerung hervorrufen. Musik kann auch in transpersonale und spirituelle Ebenen der menschlichen Erfahrung hineinführen. Bei der Arbeit mit GIM wird der Klient früher oder später mit solchen Erlebnissen konfrontiert. Dazu gehören perinatale (während des Geburtsvorganges) oder pränatale Erlebnisse, Erlebnisse aus dem Reich der Archetypen und des Kollektiven Unbewussten und Erfahrungen des Göttlichen und der All–Einheit.

GIM und das Transpersonale

Die Arbeit mit GIM geht weit hinaus über das Anliegen der klassischen Psychologie und Psychotherapie, bei der es um die Aufarbeitung von Traumata, Aufdeckung von Verdrängtem, Ergründung von Ursachen und Auflösen der Störung geht.
Die transpersonale Dimension macht uns deutlich, dass wir mehr sind als unser Ich–Bewusstsein. Es geht hier um ein Wachstum in Richtung auf eine spirituelle Verwirklichung und Ausrichtung auf eine ganzheitliche Seinswelt des Lebens. In Bereichen des Transpersonalen geht es um die Erfahrung der Nondualität, der Auflösung der Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt, Wahrnehmenden und Wahrnehmung. Transpersonale Erfahrungen haben einen zutiefst heilsamen Charakter, da sie uns zu unserem Zentrum führen, von dem aus wir einen größeren Blickwinkel einnehmen und persönliche Themen aus einer anderen und erweiterten Perspektive wahrnehmen. Wir erleben einen Zustand ohne Begrenzungen, Empfindungen der Weite und der Ausdehnung. Es sind Momente der Zeitlosigkeit und des Stille-Werdens. Schließlich geht es um
den Kontakt mit dem großen Mysterium und unabhängig von einer religiösen Ausrichtung um eine Haltung der Offenheit, des Mitgefühls und der Liebe.
In der Arbeit mit GIM gilt der Grundsatz, dass vor der Überschreitung des Ich-Bewußtseins zuerst die psychodynamische Arbeit des Klienten bewältigt sein muss. Denn allzu leicht ist die Versuchung, in transpersonale Räume zu flüchten, um vor den eigenen Schatten zu fliehen. Insbesondere in der spirituellen Szene zeigt sich immer wieder, wie exzessiv die Sucht nach Liebe und Verschmelzung „mit allen Mitteln der Kunst“ betrieben wird.
Doch das Unbewusste vergisst nichts. Die Schatten pochen weiter an die Tür und verlangen endlich Beachtung.
Erst wenn der Klient im therapeutischen Prozess gereift ist, werden in der Arbeit mit GIM spezielle Musikprogramme für transpersonale Reisen eingesetzt.
Einer der bemerkenswertesten Vertreter der Transpersonalen Psychologie ist neben Stanislav Grof der US-Amerikaner Ken Wilber. Er wird als Einstein der Bewusstseinsforschung bezeichnet und gehört zu den meistgelesenen Sachbuchautoren in den USA.

Die klinische Anwendung

Mit GIM ist es möglich, sowohl ressourcenorientiert als auch konfliktzentriert zu arbeiten. Es kann dabei um die Stimulierung des inneren Erlebens und der Selbstheilungskräfte der Psyche gehen, was zum Beispiel in der Krebstherapie bedeutsam ist.
Für zwanghaft strukturierte Persönlichkeiten oder bei depressiven Störungen kann die Erweiterung des eigenen Erlebnisspektrums wertvoll sein.
So können über die Musik die eigenen Ressourcen und positiv besetzte Anteile entdeckt werden oder „schwierige oder Angst-besetzte Gefühle können durcharbeitet werden. Schließlich geht es auch um nährende und heilsame Erfahrungen durch die ästhetische Qualität der Musik wie zum Beispiel Schönheit und Liebe.“
Als Beispiel sei hierfür auf Mozarts Ave verum Corpus, KV 618, verwiesen.
Chor und Orchester vermitteln tiefste Gefühle. Diese ruhige und durch ihre Spiritualität schlichte Musik integriert allen Schmerz und tröstet.
Das Dur gibt Hoffnung und Lösung sowie Halt durch den wiegenden Rhythmus. Es ist höchst spirituelle Nahrung und wie meine Klienten immer wieder mit gleichem Wortlaut sagen „Balsam für die Seele“ und kann tiefste Dankbarkeit auslösen.5
Vor allem die Verwendung von vokalen Stücken bringt die Imaginierenden oft in Kontakt mit Menschen oder Beziehungen. So rufen eine weibliche oder männliche Stimme wie zum Beispiel in Mozarts Verspera Solemnes, Laudate Dominum, häufig Imaginationen hervor, die mit der Kindheit und den Eltern zu tun haben und damit die Möglichkeit für eine Arbeit an diesem Themenkomplex bieten.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass GIM eine sehr effektive Methode der Psychotherapie, Selbsterfahrung und Bewusstseinserweiterung ist. Sie ermöglicht einen direkten Zugang zu tiefsten Schichten der menschlichen Psyche und macht psychodynamische Verarbeitungsprozesse möglich, die auch in der neueren Hirnforschung ihre Bestätigung finden.

Erwähnte Literatur und Fußnoten

1 Manfred Spitzer: „Musik im Kopf“, Stuttgart, 2007, S. 430, 211
2 Anna Elisabeth Röcker: „Musik – Reisen als Heilungsweg“, München, 2005, S. 16, 25
3 Gerad Hütther: „Die Macht der inneren Bilder“, Göttingen, 2004, S. 38
4 SWR Fernsehen, Sendung vom 15.11.2007 „Die Heilkraft der Einbildung“ in odysso
5 Isabelle Frohne–Hagemann: „Rezeptive Musiktherapie“, Wiesbaden, 2004, S.102, 101, 323

Weiterführende Literatur

Stephanie Merrit:
„Die heilende Kraft der klassischen Musik“, München, 1998;
Helen Lindquist Bonny:
„Music Consciousness: The Evolution of Guided Imagery and Music”, Lower Village Gilsum, 2002
Kenneth E. Bruscia & Denise E. Grocke:
„Guided Imagery and Music: The Bonny Method and Beyond”, Lower Village Gilsum, 2002

Der Autor

Andreas Klaus
geb. 16.5.1958, Jurist, Heilpraktiker für Psychotherapie, Therapeut für imaginative Psychotherapie mit Musik (GIM), Weiterbildung in integrativer Körperpsychotherapie, humanistischer Psychologie und transpersonaler Psychologie, sowie in archetypischer Medizin bei Dr. Rüdiger Dahlke; Ausbildung in Guided Imagery and Music (GIM) bei Prof. Dr. Gina Kästele und Prof. Dr. Isabelle Frohne-Hagemann; in eigener Praxis in Berlin tätig,
www.klassikmeditation.de
gim@Klassikmeditation.de

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