Die transhumanistische Bewegung

Die letzte Phase der Menschheit

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Der so genannte Transhumanismus strebt eine Verbesserung der menschlichen Biologie durch Technik und/oder genetische Eingriffe an. Er beginnt sich in aller  Welt auszubreiten, auch organisatorisch/politisch. Seine Anhänger sind keine weltfremden Sektierer, sondern oft hoch dekorierte Wisse...
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Die transhumanistische Bewegung
Von Dipl.-Phys. Detlef Scholz, Wolfratshausen – raum&zeit Ausgabe 198/2015

Der so genannte Transhumanismus strebt eine Verbesserung der menschlichen Biologie durch Technik und/oder genetische Eingriffe an. Er beginnt sich in aller  Welt auszubreiten, auch organisatorisch/politisch. Seine Anhänger sind keine weltfremden Sektierer, sondern oft hoch dekorierte Wissenschaftler an staatlich geförderten Instituten. Es mag zum jetzigen Zeitpunkt noch übertrieben klingen zu behaupten: Die zentrale künftige Streitfrage quer durch alle politischen Lager wird die nach der technologischen „Optimierung“ des Menschen sein.
Ein Blick in das Mind-Set des Transhumanismus.

Siegeszug der Technik

"Innerhalb von 30 Jahren werden wir die Technologie für superhumane Intelligenz besitzen. Kurz danach wird die Ära des Menschen enden.“ (Vernor Vinge, Transhumanist, Mathematiker und Computerwissenschaftler in seinem Essay „The Coming Technological Singularity“ im Jahr 1993)
Der Transhumanismus geht um in der Welt, auf leisen Sohlen noch, vielerorts kaum wahrgenommen. Wer jedoch die Ohren spitzt, wachsam ist und ein Bewusstsein für dieses Phänomen entwickelt, kann ihm auf Schritt und Tritt begegnen. Er manifestiert sich überall dort, wo der Mensch seine angestammte Natur verlässt oder zu ändern trachtet, um seine eigene Identität zu finden. Genau genommen sind sogar beispielsweise Homosexualität (sexuelle Selbstbestimmung) und die heute um sich greifenden Tätowierungen und Piercings (morphologische Selbstbestimmung) bereits als Transhumanismus zu begreifen. Über Anti Aging Maßnahmen, Silikonbrüste, pharmazeutische Kognitionsverbesserung, Präimplantationsdiagnostik, Trans-Genderismus, Geschlechtsumwandlungen, Designer-Babys, gentechnische Eingriffe ins humane Erbgut, Implantieren von Chips erreichen wir fast bruchlos das andere Ende der transhumanistischen Skala, wo sich Cyborgs (Mensch-Maschine-Wesen) und Chimären (Mensch-Tier-Wesen) tummeln oder der schon berühmt gewordene Mind-Upload à la Ray Kurzweil unendliches Leben in jeder beliebigen virtuellen Realität verspricht. Dazu später mehr.
Der Transhumanismus, der Anfang der 1990er Jahre als Subkultur begann, tritt heute organisiert in Form von Instituten1 und Parteien2 auf, hat sogar ein Manifest3 und ein Logo: h+ (sprich „h plus“). Das h steht für „Homo“, den Menschen, das Plus-Zeichen für etwas, das hinzu addiert wird. Denn über eines sind sich sämtliche Transhumanisten einig: Das, was der Mensch ist, was die Schöpfung, dieEvolution, das Universum in Jahrmillionen hervorgebracht hat, lässt sich verbessern. Da geht noch was. Der natürliche Mensch ist ein zerbrechliches Wesen, anfällig für Tausende von Leiden und Krankheiten, unter denen eine ist, die letztlich jeden befällt: das Altern, an dessen Ende der Tod wartet. Alter, Krankheit und Tod sind die essenziellen Ingredienzien des Lebens: das Leiden, das abzuschaffen sich der Transhumanismus anheischig macht.
Falls nun der Eindruck entsteht, hier sei eine Nähe zu einer der Weltreligionen (nämlich des Buddhismus) festzustellen, so ist das kein Zufall. Der Transhumanismus wird sich vermutlich als eine Art moderne Religion erweisen, deren Anfänge wir gerade erleben können. Jaron Lanier (USA), oft als „Schöpfer der virtuellen Realität“ apostrophiert und daher ganz bestimmt kein Luddit („Technikfeind“ – so nennen die Transhumanisten gern ihre Gegner), hat sogar eine Art Gründer-Mythos identifiziert4: Alan Turing (England, 1912–1954), Mathematiker und der „Adam“ der modernen Informationswissenschaften, nach dem der „Turing-Test“ und die „Turing-Maschine“ (s. Abschnitt „Mind-Upload“) benannt sind, wurde wegen seiner Homosexualität gerichtlich zur chemischen Kastration verurteilt (so waren die Zeiten damals). Sein Körper verweiblichte daraufhin und Turing geriet völlig aus dem Gleichgewicht. Er nahm sich das Leben. Die „Eva“ in diesem Mythos sieht Lanier in einer Turing-Maschine, der künstliche Intelligenz und Bewusstsein zugesprochen wird. Sie entstand zwar nicht, in Analogie zum Schöpfungsmythos der Bibel, aus einer Rippe Turings, aber aus seinem Geist. Eigentlich ein Schönheitsfehler, denn alle Transhumanisten, so unterschiedlich sie sein mögen in ihren Ansätzen, sind überzeugte Materialisten: Es gibt hier keine Seele, keine Vitalenergie, keine Schöpfung, keine Engel, keine Geistwesen. Dafür ist der Glaube an Wissenschaft und Technologie umso ausgeprägter. (Die Wörter Theologie und Technologie sind sich übrigens überraschend ähnlich.) Man liegt nicht falsch, wenn man den Transhumanismus als eine radikale Form der Technokratie ansieht. Wir sind biologische Maschinen. Technik kann alle Probleme lösen: In Tech we trust!
Zum Beispiel das Problem des Alterns. Das ewige Leben, das viele Religionen ihren Anhängern im Jenseits versprechen, strebt auch h+ an – auf Erden.

Paradise Engineering

Der englische Gerontologe und Transhumanist Aubrey de Grey, der unter anderem die Methuselah Foundation5 gegründet hat, glaubt fest daran, dass Genetiker in zwei bis drei Jahrzehnten in der Lage sein werden, den Alterungsprozess zu stoppen. „Man kann vernünftiger Weise annehmen, dass man zwischen einem biologischen Alter von 20 und 25 Jahren pendeln kann – für unbegrenzte Zeit.“6 Wie das? Durch Einbau von Genen spezieller Mikroorganismen ins humane Genom, die uns fortlaufend von Abfall-Proteinen reinigen, die für das Altern verantwortlich sind.7 Bei der Fruchtfliegenart „Drosophilia“ ist dies teilweise schon gelungen. Die Forscher identifizierten das Gen für Alterung, manipulierten es und konnten so die Lebensdauer der „Methusalemfliegen“ um das drei- bis vierfache erhöhen.8 Soweit ist man beim Menschen natürlich noch nicht. Vorerst müssen sich die Genetiker noch an Mäusen gütlich tun, „weil die Menschen genetisch ähnlich sind.“9 Die Methuselah Foundation hat einen Preis („MPrize“) von 1,4 Mio Dollar für Forscher ausgesetzt, die das Leben von Mäusen deutlich verlängern. So hofft man auch, das Thema Lebensverlängerung (engl. „Longevity“) salonfähig zu machen. „Durch Programme wie MPrize haben wir einen ernsthaften Diskurs über Altern und Langlebigkeit angeregt und diesem einst beargwöhnten Forschungsgebiet Glaubwürdigkeit und Respekt verschafft“10, so Aubrey de Grey, der so ganz und gar nicht ergrauen möchte.
Der englische Philosoph und Futurist Max More, der den Begriff Transhumanismus im heutigen Sinne prägte, spricht es aus: „Wir haben bereits zwei von drei Träumen der Alchemisten realisiert: Transmutation von Elementen und das Fliegen. Als drittes ist die Unsterblichkeit dran.“11 Damit lässt sich auch in der Öffentlichkeit punkten. Wer möchte nicht gern Hunderte von Jahren in bester Gesundheit verbringen, vielleicht gar unbegrenzt leben? Das ist das finale Ziel der so genannten Regenerativen Medizin. „Stellen Sie sich eine Welt vor, in der es keinen Mangel an Organen gibt, in der Querschnittsgelähmte wieder laufen können, und wo gealterte Herzen ersetzt werden können. Das sind die langfristigen Ziele der regenerativen Medizin.“12 Aber so lange frische Organe vom 3-D-Printer mittels Nanotechnik noch nicht hergestellt werden können, versucht man, die bestehenden Methoden zu verbessern, etwa eine DNA-spezifische Chemotherapie, die weniger Nebenwirkungen haben soll.13 Es mutet widersprüchlich an, dass die meisten Transhumanisten von unbegrenzter Lebensdauer bei bester Gesundheit träumen, während degenerative Krankheiten wie Krebs, Alzheimer, Diabetes, Herz/Kreislauf-Beschwerden und so fort geradezu epidemische Ausmaße in der „zivilisierten“ Welt annehmen. Aber die Transhumanisten sehen die Ursachen dafür kaum in naturwidrigem Leben, toxischen Umwelteinflüssen und technischen Strahlungen, sondern identifizieren die anfällige menschliche Physis als Übeltäter bzw. Versager. Für sie ist es nur eine Frage der Zeit, bis Genetik, regenerative Medizin und auch Nanotechnik den degenerativen Krankheiten den Garaus machen werden. Daher lassen Transhumanisten, die es nicht schaffen, „lange genug zu leben, um ewig zu leben“ (Ray Kurzweil) sich beziehungsweise ihr Hirn nach dem klinischen Tod einfrieren. Kryonik heißt das bewährte Verfahren. Die Hoffnung, wieder belebt werden zu können, wenn die Technik erst mal soweit ist, stirbt bekanntlich zuletzt.

Ein bisschen weniger tot

Der schon zitierte Transhumanist Max More ist seit 2011 CEO und Präsident der Alcor Life Extension Foundation14, dem weltweit größten Anbieter kryonischer Dienstleistungen („Cryogenics“). Das in Arizona (USA) ansässige Unternehmen sieht sich als Non Profit Organisation, steckt also seine Gewinne in weitere Forschungen zur Kryonik. Das ist auch bitter nötig, denn eine Kleinigkeit ist bis heute noch unklar: Wie weckt man ein tiefgefrorenes Lebewesen wieder auf? Was bei weiblichen Eizellen heute schon zum Tagesgeschäft gehört (wenn berufstätige Karriere-Frauen ihren Mutterwunsch lieber im Alter nachkommen möchten, lassen sie kurzerhand ein paar Eizellen einfrieren, die sie im Alter befruchten lassen und dann austragen können), ist am anderen Ende des Lebensweges leider noch nicht möglich.
Aktuell (Stand: 31.7.2015) verhindert Alcor durch Temperaturen von  –196 °Celsius (etwas unterhalb des Siedepunktes von Stickstoff) den Verwesungsprozess (und damit eine Entropiezunahme des zerfallenden Gewebes) von 139 Menschen und 33 Haustieren (!). „Rein informationstheoretisch betrachtet ist Unsterblichkeit bereits möglich“, sagt der schottische Futurist und Kryonik-Experte D. J. MacLennan, Autor des Buches „Frozen to Life – A personal Mortality Experiment“. „Kryonauten [die Eingefrorenen, d. V.] sind stumme Bewohner einer unbekannten Schwelle. Nicht lebendig; nicht tot; früher nicht verrückt; nicht notwendigerweise selbstsüchtig, altruistisch oder Wegbereiter; bloß – aus Liebe zur Hoffnung und Vernunft – nicht unwiderruflich verloren.“15
Das ist transhumanistische Poesie vom Feinsten. Was aber ist, wenn der Mensch nun doch eine Seele hat, Vitalenergie, einen Ätherkörper, Feinstofflichkeit? Wenn die Seele sich nicht in die Lichtwelten begeben kann, weil die „fest gefrorene“ Information des Körpers/des Gehirns sie an dieses Reich bindet? Nein, das ist kein Grund zur Sorge für den Transhumanisten. Für ihn zählt nur die Materie. „Der Unterschied zwischen unserer besten und unserer schlimmsten Zeit ist in letzter Hinsicht ein Unterschied in der Anordnung unserer Atome“16, sagt der schwedische Philosoph Nick Bostrom (Universität Oxford), Mitbegründer der World Transhumanist Association17 (1998). Und wenn unser ganzes Wohl und Wehe nur von den Atomen, Molekülen und Makromolekülen wie der DNA abhängt, so ist es nur folgerichtig, wenn der Mensch dazu übergeht, die Materie auf dieser Skala zu manipulieren. Womit wir bei Gentechnik und Nanotechnik angelangt wären, den Zukunftstechnologien schlechthin nicht nur der Transhumanisten, sondern auch der Militärs, der Pharmaindustrie und allgemein der Wirtschaftsfachleute. Der australische Medienwissenschaftler Mark Pesce hat die interessante These aufgestellt, dass sich der technische Fortschritt der Menschheit danach bemessen lässt, wie klein die Ansammlung der Materie ist, die er manipulieren kann.18 Das begann mit Billionen Billionen Atomen im Faustkeil, verminderte sich auf Billionen in der Feinmechanik, auf Millionen in der Chipfertigung und liegt heute bei einzelnen Atomen in der Nanotechnik.

Techno Sapiens

Nanotechnik bedeutet also Kontrolle der Materie auf Atombasis. Man kann bereits gezielt ein einzelnes Atom versetzen. Don Eigler, IBM-Forscher im Almaden Research Center, verändert ein berühmtes Zitat: „Ein kleiner Schritt für ein Atom, aber ein großer für die Menschheit.“19 Ja, es könnte aber auch der letzte Schritt sein, dazu später mehr. Nanotechnik (N) soll gemeinsam mit Biotechnik (B), Informationstechnik (I) und Kognitionswissenschaften (C, Cognition Science) zur übergreifenden Hochtechnologie NBIC (nano-bio-info-cogno) konvergieren und die Tür zum Techno-Sapiens weit aufstoßen. Die US National Science Foundation verfolgt eine NBIC-Initiative, in die zusätzlich künstliche Intelligenz, Kybernetik und Robotik integriert sind, ausschließlich zu dem Zweck der human enhancement („menschliche Verbesserung“ bzw. „Unterstützung“ oder „Optimierung“). NBIC-Programmchef Mihail Roco erklärte auf einem Meeting, dass die finanziellen und personellen Aufwendungen für „das Reengineering der Menschheit“ auf Platz 2 hinter dem Apolloprogramm für die Mondlandung rangiere. Der 482 Seiten starke Report Converging Technologies for Improving Human Performance wurde vom NSF gemeinsam mit dem US Handelsministerium herausgegeben. Darin steht in der Einleitung: „Die Integration und Synergie der vier Technologien (nano-bio-info-cogno) entspringt auf der Nano-Skala, wo die grundlegenden Muster der Materie gebildet werden.“ Biotechnik umfasst selbstverständlich genetic engineering: „In der technischen Evolution ist der Zeitpunkt gekommen, wo die menschliche Verbesserung [„Enhancement“] durch die Integration der Technologien möglich wird“, heißt es in dem Bericht. Da ist die Rede von verbesserter Arbeitseffizienz und gesteigerter Lernfähigkeit, schärferen Sinnen, erhöhten kognitiven Fähigkeiten, mehr Kreativität, Hirn-zu-Hirn-Kommunikation, perfekter Hirn-Maschine-Schnittstelle (BMI, brain machine interface) inklusive neuro-morphing (Neuro-Gestaltung).
Ganz offenbar befinden wir uns an einem geschichtlichen Wendepunkt. Zielten bislang fast sämtliche Technologien darauf ab, die Umwelt an die menschlichen Bedürfnisse anzupassen, so richten sie sich neuerdings nach innen: Der Mensch selber ist zum Objekt der Ingenieurskunst geworden, der Bio-Designer, Gen-Ingenieure und Neuro-Enhancer. Und eben das ist das Wesen des Transhumanismus: die beschleunigte Fortsetzung der natürlichen Evolution durch technische Eingriffe. Die Transhumanisten – die einen setzen mehr auf die Mensch/Maschine/Cyborg-Karte, die anderen bevorzugen genetische Eingriffe – sehen diese Entwicklung gewissermaßen als naturgemäß an: Die Natur hat ihre Oberhoheit über die Evolution an den Menschen übergeben. Die natürliche Evolution entwickelte sich anfangs sehr langsam: Nach der Entstehung des Lebens auf Erden in Form von Einzellern vergingen zwei Milliarden Jahre bis zur ersten eukaryontischen Zelle. Von dort bis zur kambrischen Arten-Explosion dauerte es dagegen „nur“ achthundert Millionen Jahre, bis zu den Reptilien vergingen weitere 200 Millionen Jahre.

Ray Kurzweil ist ein Prophet des Transhumanismus

Es war Ray Kurzweil, der die exponentielle natürliche Evolution mit der exponentiellen technologischen Entwicklung verglichen und in eine recht überzeugende grafische Darstellung überführt hat. Kurzweil, AI-Forscher (artificial intelligence, künstliche Intelligenz) beim Datenkonzern Google, ist wohl der aktuell bekannteste Transhumanist. Viele haben von ihm gehört: Ist das nicht der Typ, der (s)ein Gehirn auf einen Computer laden will? Mind-Upload – das klingt nach einem verrückten Wissenschaftler. Allerdings macht Kurzweil in Wort und Schrift einen äußerst nüchternen und rationalen Eindruck, ganz wie man es von einem Technokraten erwarten würde. Kurzweil-Bonmots wie „Wir verschmelzen mehr und mehr mit Maschinen und werden schließlich selbst zu Maschinen“ euphorisieren Science-Fiction-Fans und jagen anderen Schauer über den Rücken, ergeben sich jedoch aus dem Mind-Set des überzeugten Transhumanisten Kurzweil zwangläufig. Es ist ja nichts Schlimmes dabei: Wir werden gesünder, intelligenter, leben unbegrenzt und können alles erleben, was wir wollen, sei es in der Realität oder virtuell. Und warum sollte Leben auf kohlenstoffbasierte Proteine beschränkt bleiben? Der schon zitierte Philosoph Nick Bostrom spricht vom „Kohlenstoffchauvinismus“ und „Bioismus“, sieht darin sogar eine Form von Rassismus. „Von einem moralischen Standpunkt ist es egal, ob jemandes Neuronen aus Silizium bestehen oder biologisch sind.“
Der Gedanke, dass es künftig strafbar sein könnte, seinen Computer als Idioten zu beschimpfen („rassistische Beleidigung“), ist so abwegig nicht. Es gibt in den USA bereits eine Diskussion darüber, inwiefern künstliche Intelligenz Personenstatus besitzen könnte, und die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte sich auch auf nicht-biologische Intelligenzen erstrecken sollten. Der Rechtswissenschaftler Max Mehlman (Arizona States University) hat 2008 respektive 2009 zwei Vorlesungen zu dieser Thematik gehalten: „Improved Humans: Legal and Political Aspects of the New Genetics“ (deutsch: Verbesserte Menschen: Legale und politische Aspekte der neuen Genetik“) und “Directed Evolution: Public Policy and Human Enhancement” (Gerichtete Evolution: Politik und humane Verbesserung). Bereits 2003 veröffentlichte Mehlman eine Schrift mit dem Titel: „Wondergenes: Genetic enhancements and the future of society“ (Genetische Verbesserung und die Zukunft der Gesellschaft).21 Die Website der Uni Arizona trägt den Untertitel: „Facing the Challanges of Transhumanism: Religion, Science, Technology“ (deutsch etwa: Im Angesicht der transhumanistischen Herausforderungen: Religion, Wissenschaft, Technologie). Die amerikanische Rechtsanwältin und Transgender-Aktivistin Martine Rothblatt, im Jahr 2013 die bestbezahlte weibliche CEO (Chief Executive Officer) der USA (38 Mio US-$), sagte beim diesjährigen Film- und Musik-Festival SXSW (in dem auch die einschlägigen h+-Filme Ex Machina und Creative Control zu sehen waren) in Austin/Texas: „Es geht nicht um 'wir gegen den Cyberspace‘. Wir werden zusammen verschmelzen. ... Vom Standpunkt des Bewusstseins sind wir alle eins. ... Zukünftige Roboter werden verfassungsmäßige Rechte besitzen, und Cyber-Psychiater werden ihre Ängste therapieren, dass sie nicht voll menschlich seien.“22

Das Heaven Szenario

Das, was Frau Rothblatt, die übrigens eine ziemlich echt aussehende robotische Nachbildung ihrer Lebensgefährtin Bina besitzt, mit der man sich sogar unterhalten kann, hier so rührend beschreibt, entstammt dem so genannten „Heaven-Szenario“ (Himmels-Szenario). Friedliche Koexistenz zwischen normalen Menschen, genetisch verbesserten Menschen, Cyborgs (eine Mischung aus Mensch und Maschine) und reinen Maschinenwesen. Nicht zu vergessen verbesserte Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen, wie wir sie schon aus manchen alten Mythen als Chimären kennen. Im Heaven-Szenario gibt es keine Krankheiten mehr, keine Kriege, keine Unterdrückung, ausreichend Energie und Nahrung für alle. Manche ziehen eine Existenz in einer rein virtuellen Umgebung vor, ähnlich wie in dem Film Matrix dargestellt. Auf virtueller Ebene, also als digitalisierte Person in einem „Digitarium“ können die Wesen sogar miteinander verschmelzen und zum ersten Mal erfahren, was „Wir sind eins“ bedeutet. Möglich wird auch, sich die Subjektivität einer anderen Person, ja sogar die eines Tieres anzueignen, ohne dabei das eigene Selbst aufgeben zu müssen. Erlauben soll das WBE: substratunabhängige Whole Brain Emulation (Gehirn-Emulation; eine Emulation ist die originalgetreue Nachbildung einer komplexen Prozessmatrix in einem anderen Substrat).

Die Singularität

Das Heaven-Szenario könnte man als „Schöne neue Welt“ bezeichnen, nach dem Titel eines Buchs von Aldous Huxley (dessen Bruder Julian übrigens den Begriff Transhumanismus erstmals benutzte, nachdem „Eugenik“ durch die Nazi-Herrschaft als anrüchig galt.) Doch Kurzweils Version des Himmels endet hier noch lange nicht. Er rechnet damit, dass Ende der 2020er Jahre der Fall der so genannten Singularität eintritt, dem Heilsereignis der Transhumanisten (s. Kasten). Sein Szenario: Da die starke künstliche Intelligenz sich selber vervielfältigen und weiter verbessern kann, wird es nicht mehr lange dauern, bis das menschliche Gehirn vollständig gescannt und in einer nicht-biologischen Umgebung emuliert werden kann, und zwar jedes individuelle Gehirn. Voraussetzung ist, dass seine wesentlichen Strukturen und Funktionen verstanden und digitalisiert werden können. Das kann aber nur mit der Hilfe so genannter Nanobots geschehen: winzige Maschinen in Nanogröße (1 nm = ein Milliardstel Meter), molekulare Assembler, bestehend aus etwa einer Million Kohlenstoffatomen, die sich selber replizieren können. Sie werden in die Blutbahn injiziert, wo sie beschädigte Gene reparieren, Krankheitskeime beseitigen und sogar, nach Überwindung der Blut- Hirn-Schranke (wie das geschehen soll, ist noch unklar), ins Gehirn vordringen und dieses in seinen Funktionen und seiner Struktur vollständig erfassen. Die Fähigkeit, Materie durch Nanotechnik in künstliche Intelligenz umzuwandeln, wird nach Kurzweil exponentiell weiter zunehmen, es gibt quasi keine Beschränkung mehr. Denn die Singularität zeichnet sich dadurch aus, dass von jeder Intelligenz Kopien („copy and paste“) hergestellt werden können, und alle Intelligenzen sind miteinander vernetzt. Dadurch wird irgendwann die absolute Super-Intelligenz entstehen, die zunächst das Sonnensystem, dann die Milchstraße und schließlich das ganze Weltall in reine Intelligenz verwandelt. Eines muss man dem ansonsten streng wissenschaftsgläubigen Kurzweil lassen: Damit widerspricht er zumindest dem gängigen Modell der Standardkosmologie, der zufolge das Universum den Wärmetod stirbt. Es dämmert dann auf ewig vor sich hin. In Kurzweils Szenario aber triumphiert letztlich – der (Heilige?) Geist.

Highway to Hell

Manch einem mag bereits dieses Heaven- Szenario eher höllisch vorkommen, aus gutem Grund. Denn die Durchsetzung der biologischen Wesen mit Chips und Nanobots gibt Anlass zu schlimmsten Befürchtungen, ruft man sich die jüngsten flächendeckenden Schnüffeleien bestimmter Geheimdienste ins Gedächtnis. Die Transhumanisten scheinen diesbezüglich jedoch allesamt völlig blauäugig zu sein. Sie reden fast nur über die möglichen Wohltaten für die Menschheit durch die neuen Technologien. Gefahren des Missbrauchs durch Staaten oder Konzerne (was ohnehin kein großer Unterschied mehr ist) existieren schlicht nicht im Mind-Set der Transhumanisten. Die Gefahren, die sie sehen und vor denen sie warnen, ergeben sich aus der Technik selber. Denn sollte es gelingen, einen Cyborg oder bewussten Roboter zu erschaffen, der jede menschliche Intelligenz um ein Vielfaches überragt, so kann niemand ausschließen, dass dieser sich nur an das letzte der drei Gesetze für Roboter hält, die einst der Futurologe und SF-Autor Isaac Asimov gefordert hat:
1) Niemals einen Menschen verletzen;
2) Immer dem Menschen gehorchen;
3) Die eigene Existenz schützen.
Wer kann schon ausschließen, dass eine solche Superintelligenz sich die Welt untertan macht, eine Schreckensherrschaft errichtet oder gleich alle minderwertigen Kohlenstoffwesen eliminiert? Selbst Kurzweil und Vinge geben zu, dass dieser Fall eintreten könnte. Nun, dann sollte man besser die Finger davon lassen, oder? Doch dann, so die Argumentation, würde eben jemand anders es tun. Die Forschung an diesen Dingen lässt sich nicht weltweit kontrollieren, zumal es mit Sicherheit militärische Geheimprojekte gibt, die sich jeglicher öffentlichen Kontrolle entziehen. Kein Staat will in einer so wichtigen Zukunftstechnologie in Rückstand geraten. Und genau deswegen, so die Transhumanisten, sei diese Entwicklung grundsätzlich nicht mehr aufzuhalten. Das einzige, was man tun könne, sei, jede Menge Sicherheitsmechanismen einzubauen. Jedoch wie man sich auch dreht und wendet, eine Superintelligenz wäre in der Lage, jeden sie einschränkenden Mechanismus außer Kraft zu setzen, sonst wäre sie keine Superintelligenz. Besonders gruselig geht es in dem so genannten Grey-Goo-Szenario zu. Die Nanobots müssen bekanntlich die Fähigkeit haben, sich selber zu reproduzieren, anders wäre es unmöglich, sie in großer Zahl – Milliarden, Billionen – herzustellen. Ihre Arbeitsweise ist der Natur abgeschaut: So wie zum Beispiel Hefepilze endlos lange Zucker zu Alkohol oxidieren, solange Zucker verfügbar ist, und sich dabei exponentiell vermehren, so könnten Nanobots alle Kohlenstoffvorräte in sich selber verwandeln und dabei die gesamte Biosphäre der Erde in einen grauen Schleim verwandeln. Dieses Schreckensszenario ist auch als „Ecophagie“ bekannt, und wurde als erstes vom Nanotechnik-Pionier Eric Drexler (dem Gründer des transhumanistischen Foresight-Instituts) beschrieben. Nun sind molekulare Assembler vermutlich (man weiß halt nie, was geheime Militärforschung wie z. B. DARPA bereits alles können) zwar noch Zukunftsmusik. Allerdings man darf nicht übersehen, dass hier weltweit geforscht wird, und zwar ziemlich frei und ohne große staatliche Kontrollen. Nanotechnik wie auch Gentechnik bergen massive Gefahren bis hin zu einer globalen Technokalypse, die einem globalen Atomkrieg an Schrecken in nichts nachstünde.
Während jedoch der Bau einer Atombombe kaum im Verborgenen möglich ist, gilt dies für Nano- und Gentechnik nicht unbedingt. Es gibt bereits seit einigen Jahren den Trend der DIY (Do It Yourself) Bio-Movement (kurz Diybio). So genannte Biohacker bauen sich ihr eigenes Gentechnisches Labor aus Software, Hardware und so genannter Wetware (biologische Hardware) auf und laden sich genetischen Code aus dem Internet, um damit zu experimentieren.23 Bill Joy, der Mitbegründer von Sun Microsystems, hat genau diese Gefahren in seinem bekannten Essay „Warum die Zukunft uns nicht braucht“24 aufgezeigt: „An die Stelle der Massenvernichtungswaffen tritt damit die Gefahr einer wissensbasierten Massenvernichtung, die durch das hohe Vermehrungspotenzial noch deutlich verstärkt wird. Ich denke, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, wir stehen an der Schwelle zu einer weiteren Perfektion des Bösen in seinen extremsten Ausprägungen; und diesmal werden die so geschaffenen schrecklichen Möglichkeiten nicht nur Nationalstaaten zur Verfügung stehen, sondern auch einzelnen Extremisten.“ Der Gedanke, dass er an einer den Menschen verdrängenden Technologie mitgearbeitet hat, erfüllt Joy heute mit Unbehagen.

Technologische Singularität

Die so genannte Technologische Singularität (TS) ist ein hypothetisches Ereignis der nächsten Jahrzehnte, in dem sich die künstliche Intelligenz explosionsartig vervielfältigt, analog der kambrischen Explosion in der Erdgeschichte. Nur eben, dass sich aufgrund der exponentiellen Entwicklung die TS nicht über Jahrmillionen erstreckt wie die kambrische Radiation, sondern innerhalb weniger Jahre/Jahrzehnte vollzieht. Sie setzt ein, wenn technische Intelligenz erstmals menschliche übersteigt. Man spricht dann von Superintelligenz. Sie kann sich selber verbessern und vervielfältigen. Es gibt allerdings schwerwiegende Einwände gegen die Möglichkeit einer bewussten Superintelligenz (s. Abschnitt „Mind-Upload“).

Mind Upload

Der viel zitierte Mind-Upload hat unter Kognitionsforschern, Philosophen und Informationswissenschaftlern hitzige Debatten ausgelöst. Ist es prinzipiell möglich, sämtliche Funktionen des (menschlichen) Gehirns in einer anderen Umgebung (z. B. in einem elektronischen Netzwerk) zu emulieren? Forscher wie Ray Kurzweil zeigen sich davon überzeugt. „Wenn ein Problem nicht von einer Turing-Maschine [Computer, d. V.] gelöst werden kann, so auch nicht vom menschlichen Geist.“ Und Henry Markram, Chef des Human Brain Projects , sagte: „Bewusstsein ist bloß ein massiver Austausch von Informationen durch eine Billiarde Gehirn-Zellen. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht fähig sein sollten, ein Bewusstsein zu erzeugen.“ Doch ist das Gehirn sicher keine Turing-Maschine, welche ausschließlich auf einem syntaktischen Code basiert, Zeichen/Symbole manipuliert und der eine Semantik fremd sein muss. Vielmehr, darauf weisen der Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis und der Mathematiker Ronald Cicurel in ihrem Buch „The Relativistic Brain“ hin, sind im Gehirn Hardware und Information verschmolzen („Embedded Information“), indem das Denken das Gehirn strukturell und funktional prägt, aber auch von diesem hervorgebracht wird. Das Gehirn ist daher keine Hardware, auf dem eine Software läuft und daher grundsätzlich von einem Computer verschieden. Es arbeitet mit Gödelscher Information und hat daher eine Semantik. Eine Turing-Maschine müsste für jede Bedeutung einen Code (Syntax) erzeugen, und für diesen Code wiederum einen Code – ad infinitum. Da das Gehirn nicht „engineert“ wurde, sondern in Jahrmillionen langer Evolution entstand, lässt es sich auch nicht „re-engineeren“. Es sei eine Ironie, dass ausgerechnet erklärte Darwinisten wie Kurzweil, Markram usw. von einem intelligent Design des Gehirns ausgehen, dass man nachbauen könne.

Fußnoten

1 Wichtige Institute:
Foresight Institute: http://www.foresight.org/ ;Humanitiy plus: http://humanityplus.org/ ; Institute for Ethics and Emerging Technologie: http://ieet.org/
2 Z. B. frisch in Deutschland gegründet:
http://transhumane-partei.de/
3 http://www.transhumanist.biz/transhumanistartsmanifesto.htm
4 S. sein Buch „Gadget“; in seinem Essay „The first Church of Robotics“ vom 9.8. 2010 in der New York Times mokiert er sich über religiöse Tendenzen in der AI-Forschung.
5 https://mfoundation.org/
6 www.livescience.com/6967-hang-25-yearwait-immortality.html
7 ebd.
8 www.genescient.com/research/methuselah-flies/
9 https://mfoundation.org/work
10 ebd.
11 https://en.wikipedia.org/wiki/Max_More
12 https://mfoundation.org/work
13 ebd.
14 http://www.alcor.org/
15 https://www.singularityweblog.com/cryonics-a-glass-state-time-travel/
16 aus: „Radical Evolution“ von Joel Garreau, S. 242
17 heute: http://humanityplus.org/
18 hplus Magazine Fall 2008, S. 38
19 „Bionics, Transhumanism and The End of Evolution“ – Full Documentary, 2015
20 „Mensch 2.0“ von Ray Kurzweil, S. 379
21 http://transhumanism.asu.edu/people/profile.php?profile=Mehlman
22 www.usatoday.com/story/tech/2015/03/15/sxsw-rothblatt-cyberclones-keynote/24816839/
23 h+ Magazine Winter 2009, S. 46
24 s. z.B. http://www.km21.org/23rdcentury/billjoy_0600.htm
25 in seinem Buch „Homo S@piens“
26 https://www.humanbrainproject.eu/

Der Autor

Dipl.-Phys. Detlef Scholz studierte Physik in Münster. Danach siedelte er nach München über und arbeitete dort als Ingenieur. Seit Mitte der neunziger Jahre ist er als Fachjournalist tätig.

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