TTIP – Der lautlose Tsunami

Teil 1: Das drohende Freihandelsabkommen mit unseren amerikanischen Freunden

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Vielleicht haben wir uns schon daran gewöhnt, dass überall Überwachungskameras angebracht sind, der amerikanische Geheimdienst alles abhört und auch bei uns Drohnen zur Spionage eingesetzt werden.Sind wir aber auch bereit, uns von internationalen Konzernen diktieren zu lassen, was w...
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TTIP – Der lautlose Tsunami
Von Friederike Beck, Bonn – raum&zeit Ausgabe 188/2014

Vielleicht haben wir uns schon daran gewöhnt, dass überall Überwachungskameras angebracht sind, der amerikanische Geheimdienst alles abhört und auch bei uns Drohnen zur Spionage eingesetzt werden.
Sind wir aber auch bereit, uns von internationalen Konzernen diktieren zu lassen, was wir essen oder wie wir unsere Energie gewinnen? Wollen wir unser Justizsystem und die wissenschaftliche Forschung zur Farce verkommen lassen und uns von wahnwitzigen Schiedsgerichten eine endlose Reihe von Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe aufoktroyieren lassen?

Der größte Marktplatz der Welt

Im Februar 2013 gab US-Präsident Obama die Eröffnung von Verhandlungen zum größten Freihandelsabkommen der Geschichte zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union bekannt.
Wenn die Vereinbarung gelinge, werde der größte Marktplatz der Welt geschaffen. Bedeutende wirtschaftliche Gewinne auf beiden Seiten des Atlantiks seien quasi vorprogrammiert.
Das geplante Freihandelsabkommen wurde im Vorverhandlungsstadium bisher TAFTA genannt, was für „Trans-Atlantic Free Trade Agreement“ steht. Das Projekt soll demnächst mit einem völkerrechtlich gültigen Vertrag zwischen einer Vielzahl von Staaten abschließen: Seit einem Jahr wird nun offiziell der Name „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ (TTIP) für das geplante Freihandelsabkommen bevorzugt.
Die Vorarbeiten für das Abkommen führte eine bilaterale Expertengruppe durch, welche die Begründungen und das Rahmenkonzept für den geplanten Mega-Deal ausformulierte.

Alles ist auf dem Tisch

Die TAFTA/TTIP-Arbeitsgruppe verhandelt hinter verschlossenen Türen. Ihr stehen die beiden Chefunterhändler Michael Froman (Handelsvertreter der USA; bis Juni 2013 Ron Kirk) und Karel De Gucht (EU-Handelskommissar) vor. TTIP werde „die außerordentlich nahe strategische Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa weiter stärken“, so die Gruppe. Es macht bereits der Ausdruck „Wirtschafts-NATO“ die Runde.
Der US-Vertreter Ron Kirk ließ Reporter in Washington wissen, dass sogar politisch sensible Themen wie Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion oder Datenschutz verhandelt würden. „Für uns ist alles auf dem Tisch, alle Bereiche sind betroffen, auch der landwirtschaftliche Sektor, ob es nun die GVOs sind oder andere Themen“, sagte Kirk. „Wir sind ehrgeizig und wir werden alle diese Themen verhandeln.“
Kirks Vorgänger in derselben Verhandlungsposition, Jeffrey Schott (vom Peterson Institute for International Economics in Washington1) sagte zu diesem Thema: „Die größte Aufgabe wird sein, den politischen Willen zu finden, um Herausforderungen zu überwinden, wie die Ablehnung der europäischen Öffentlichkeit gegenüber genetisch modifizierten Nahrungsmitteln und Saatgut, das die Vereinigten Staaten exportieren wollen. Ich glaube, es gibt Spielraum für Kompromisse und konstruktive Vereinbarungen.“2
Diese Ankündigungen lassen aufhorchen und Schlimmes befürchten. Aber die Öffentlichkeit hat Mühe, den tatsächlichen Stand der Dinge zu erkunden; außer ein paar Fakten zur groben Orientierung gibt es von offizieller Seite bisher vor allem euphorische Ankündigungen und Versprechen.3
In Amerika würden durch TTIP Jobs entstehen, amerikanische Exporte boomen, Innovationen gefördert. Die Europäische Kommission kündigte ihrerseits an, TTIP werde das Wirtschaftswachstum ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. „Unabhängige Studien“ zeigten, dass die Wirtschaft der EU um 120 Milliarden Euro wachsen werde, die der USA um 90 Milliarden und der Rest der Welt um 100 Milliarden, seien erst einmal Handelsbarrieren und -hemmnisse beseitigt, die den Unternehmen Kosten für Investitionen sparen. Wie haltbar diese Versprechen sind, dazu später mehr.

TTIP ist ein lang gehegter Wunsch der Konzerne

Freihandel und deregulierte Märkte sind seit vielen Jahrzehnten Wunschprojekte großer Unternehmen, die bisher mit bilateralen Freihandelsabkommen gesichert werden mussten. Betrachtet man die Vorläuferaktivitäten von TTIP und verfolgt seinen absichtsvoll verschachtelten „Stammbaum“ zurück, so stößt man auf große, multinationale Konzerne und Wallstreet-Banken, die sich geschickt tarnten: Akzo Nobel, BASF, Bowater, BP, Enimont, Fragomen Del Ray, IBM, ICI, ING, Lazard Freres, Philips, PwC, Sara Lee, Siegel & Gale und Xerox.
Im Januar 2013 präsentierte sich der Trans-Atlantic Business Council (TABC) als Hauptförderer des Freihandelsabkommens. Der TABC aber ist eine Verschmelzung von TransAtlantic Business Dialogue (TABD) und European-American Business Council (EABC). Der TABD wurde schon 1995 vom amerikanischen Handelsministerium und der Europäischen Kommission aus der Taufe gehoben, um den „Dialog“ zwischen europäischen und US-Wirtschaftsführern mit einschlägigen US-Ministern und EU-Kommissaren „zu fördern“.
Die TABD-Mitglieder rekrutierten sich aus Vorständen europäischer und US-Konzerne, die weltweit operieren. Der EABC wiederum ging aus der European Community Chamber of Commerce (ECCC) hervor, die bereits 1989 von großen Firmen als eine Handelskammer der EU in den Vereinigten Staaten eingerichtet worden war. Ihre Gründungsmitglieder waren die oben Genannten, mithin 9 Unternehmen mit Sitz in Europa und 6 mit Sitz in den USA.4 Das seit langem gesteckte Ziel war und ist es, über „Harmonisierung“ den „barrierefreien“ transatlantischen Marktplatz zu erreichen.

Harmonisierung

Was verbirgt sich hinter dem Stichwort wirtschaftliche „Harmonisierung“ zwischen Amerika und Europa? Mit TTIP, so der Plan, sollen nicht nur alle Zölle und Tarife wegfallen, sondern vor allem auch Bestimmungen und gesetzliche Vorschriften „hinter den Zollbarrieren”.
Da kaum noch Zölle im klassischen Sinn zwischen Amerika und Europa existieren und es bereits weitgehenden Freihandel gibt, muss man annehmen, dass TTIP sich darauf konzentriert, was „hinter den Zollbarrieren“ ist. Es geht konkret um eine Vielzahl von „non-tariff barriers“ (nicht-tarifäre Handelshemmnisse), zum Beispiel um Zulassungsverfahren bei Lebensmittel- (Lebensmittelrecht-), Industrie- und Sicherheitsstandards, technischen Normen und Regeln, Arbeitnehmerrechte, Arbeitsschutz, um die Einführung international gleicher Regeln für Regierungsaufträge beziehungsweise öffentliche Aufträge und gleiche Wettbewerbsvorschriften auf dem angestrebten neuen transatlantischen Binnenmarkt.

Die Öffentlichkeit tappt im Dunkeln

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Die Diskussion über das Für und Wider der geplanten neuen Freihandelspakte kommt erst in letzter Zeit langsam in Gang. Das liegt daran, dass die Öffentlichkeit aus dem Verhandlungsprozess herausgehalten wird, der kaum demokratisch legitimiert ist. So ist es nicht möglich, sich irgendwo über den genauen Stand des TTIP-Verfahrens zu informieren oder einen Vertragsentwurf einzusehen. Vertreter und Berater von Konzernen haben dagegen einen barrierefreien Zugang zu den TTIP-Entwürfen und zu Entscheidern aus der Politik.
Für den Rest der „Normalsterblichen“ gibt es nur „geleakte“ Papiere zu einzelnen Themen und ein paar offizielle Merkblätter.
So hält ein durchgesickertes Positionspapier zur „Regulierungskohärenz“ fest, „… die Regulatoren (exekutive und unabhängige US-Bundesbehörden) und geeignete Behörden (Kommission Services) sollten sich bei bilateraler und internationaler regulatorischer Kooperation engagieren als Teil der Erfüllung ihrer nationalen [innerstaatlichen] Ziele, um gemeinsame Regulationsziele zu maximieren und Optionen zu untersuchen, welche die regulatorische Kompatibilität verstärken könnten ohne Nachteil für ihr [der Regierungsbehörden] Recht, zu regulieren und ihr Niveau für Schutz zu definieren, das sie auf beiden Seiten angemessen finden.“
Dies ist nur ein einziger Satz aus dem Papier, aber es gibt Tausende Sätze dieser Art. Haben Sie ihn verstanden? Hier wird vermutlich die Quadratur des Kreises gefordert: Einerseits will man alle staatlichen Regelwerke maximal angleichen, um Handelshemmnisse zu beseitigen, andererseits soll das aber nicht zu Lasten nationaler Sicherheits- und Schutzbestimmungen gehen.5
Der Mangel an Material über das geplante TTIP-Abkommen und der Ausschluss von Medienvertretern behindern den demokratischen Diskurs schwer – und das ist offensichtlich gewollt. Denn erst das zur Unterschrift reife Abkommen soll schlussendlich dem Europäischen Parlament (als Vertretung der Öffentlichkeit) zur baldmöglichen Unterzeichnung vorgelegt werden. Allein dieses Verfahren ist an sich schon ein Affront gegenüber der Zivilgesellschaft. So beklagte der EU-Parlamentarier Yannick Jadot (Europe Ècologie), er fühle sich als Berichterstatter abgehängt. „Selbst, wenn wir ein Dokument bekommen, wird uns verboten den Inhalt der Öffentlichkeit mitzuteilen. Also werden die Bürger vollkommen von den Verhandlungen ausgeschlossen, die sich mit so vielem beschäftigen: mit Gesundheitsfragen, Umwelt, Sozialen Standards, öffentlichen Einrichtungen.“6
Die Position der bisherigen deutschen Regierung und auch der neuen Großen Koalition (siehe Koalitionsvertrag)7 war und ist es, ein möglichst weitgehendes Freihandelsabkommen zu erzielen. Auch die Enthüllungen Edward Snowdens über die allumfassende Kontrolle aller Kommunikationsdaten bis hin zum Handy der Bundeskanzlerin seitens amerikanischer Geheimdienste und die dementsprechende Möglichkeit für umfassende Industriespionage änderten hieran nichts.8

Rollt ein Tsunami lautlos an

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Es ist beunruhigend zu sehen, dass die Dimensionen des geplanten Abkommens Parteien, Verbänden und NGOs bisher kaum bewusst sind.9 Zum Glück gibt es Ausnahmen.
Bei Doris Bell, Biologin10 und Sprecherin der Alternative für Deutschland im Kreisverband Rhein-Sieg, die sich im Rahmen des NRW-Arbeitskreises Verbraucherschutz mit dem geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA beschäftigte, „schrillten sämtliche Alarmglocken“.11 In einem Interview vom 27. November 2013 mit „Eurokritiker“ bringt sie ihre Bedenken auf den Punkt. Sämtliche Standards der privaten und staatlichen Wirtschaft würden in Frage gestellt werden. Regelungen zum Schutz von Verbrauchern und Umwelt könnten aufgeweicht und aufgelöst werden. „Die geforderte Angleichung von Standards würde zum Beispiel im Agrarbereich bedeuten, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel massenweise nach Europa importiert und ohne entsprechende Kennzeichnungspflicht dem Verbraucher quasi aufgezwungen würden. Und im Energiesektor könnte die Gewinnung von Schiefergas (mittels Fracking) zu einer großflächigen Gefährdung unserer Grundwasser-Reservoirs führen.
Bell sieht die Gefahr, dass mit TTIP auch der Bereich der so genannten öffentlichen Daseinsvorsorge – Wasser, Bildung, Gesundheit, Energie – in weiten Teilen privatisiert werden könnte, was zu steigenden Preisen von Trinkwasser, Strom etc. bei sinkender Qualität führen würde. Weiterhin sieht Bell in einem neuen Verdrängungsmechanismus klein- und mittelständische Betriebe gefährdet, wenn Großkonzerne ungebremst agieren können: „Da können viele einheimische Betriebe auf Dauer nicht mithalten. Anschließend können die Monopolisten die Preise erhöhen und die Verbraucher haben das Nachsehen.“
Eine „Kleine Anfrage“ der Bundestagsfraktion „DIE LINKE“12 sorgte sich hauptsächlich um das Thema „audiovisuelle Mediendienste“, das bisher aus den TTIP-Verhandlungen über das Gebiet des geistigen Eigentums ausgeklammert wurde. Die mächtige US-Unterhaltungsindustrie setzt sich für Maximalforderungen im Bereich Urheberrecht ein und TTIP ist die Gelegenheit, das vom EU-Parlament gekippte Anti-Piraterie-Abkommen ACTA im TTIP-Gesamtpaket gut versteckt durch die Hintertür wieder auf den Verhandlungstisch zu bekommen. „In den TAFTA-Verhandlungen werden zivil- und strafrechtliche Sanktionen gegen die Verletzung von Urheber-, Marken- und Patentrechten allerdings nur ein kleiner Teil der Verhandlungsmasse sein“, schätzt die liberale Europaabgeordnete Marietje Schaake. Das Gesamtpaket allein auf der Basis von Spezialregelungen zu kippen, werde schwieriger als beim Anti-Piraterie-Abkommen ACTA. Schaake: „Verhandeln bedeutet immer, dass du was bekommst und was hergibst”, zitiert das Portal heise.de.13
Merke: Alle unsere bisherigen Standards stehen zur Disposition und sollen „harmonisiert“ oder relativiert werden – kein Wunder, dass die Verhandlungen bisher geheim abliefen. Denn zwischen den USA und Europa bestehen Unterschiede, die kaum „harmonisiert“ werden können, ohne dass wir tagtäglich mit den Folgen konfrontiert wären. Rollt hier ein Tsunami lautlos an, ohne dass wir es bisher ahnten?

Bei Gentechnik soll EU umgestimmt werden

Allein das Thema „Landwirtschaft“ ist ein Minenfeld: Die Erklärungen der US-Verhandlungsführer weisen klar darauf hin, dass es den USA beziehungsweise ihren Großkonzernen darum geht, die europäischen Staaten zu zwingen, Gen-Saatgut oder Klonfleisch zu akzeptieren. Denn ein Verbot genetisch modifizierter Organismen (GMO/GVOs) in einigen EU-Ländern oder eine Kennzeichnungspflicht sind ganz klare Handelshemmnisse. Damit möchte die EU-Kommission aufräumen: Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie europäische Bestimmungen und Beschränkungen als Hindernisse sieht: „Die EU und die USA tauschen bereits Informationen über Politik, Regulierungen und technische Daten hinsichtlich GVOs aus. Diese Art der Kooperation hilft dabei, die Auswirkungen der Zulassungsverfahren unserer jeweiligen Systeme für GVOs auf den Handel auf ein Minimum zu beschränken. Wir sehen TTIP als eine Chance, diese Art der Zusammenarbeit zu fördern.“14
Das europäische Prinzip der Vorsichtsmaßnahme und der Schutzpflicht, das so genannte „Vorsorgeprinzip“, steht als „Handelshemmnis“ ebenfalls zur Disposition! In den USA gelten nämlich Risiko-Studien, die nicht eindeutig eine Gefahr für die Verbraucher erweisen, als ausreichend zum Beispiel für die Zulassung von GVOs.
„Es gibt scharf auseinanderklaffende Zulassungsbestimmungen, da die EU das ‘Vorsorgeprinzip‘ anwendet und GVO-Produkte ablehnt und weniger wissenschaftlich fundierte, risikobasierte Bestimmungen anwendet als die USA und kein EU-Gegenstück zum US Administrative Procedures Act hat. Die sanitären und phyto-sanitären Maßstäbe sind eine besondere Herausforderung.“15
Aber man lässt sich nicht entmutigen! Stuart Eizenstat hat eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie man diesen „Herausforderungen“ begegnen kann. Er ist einer der einflussreichsten TTIP-Ideengeber und Lobbyisten des transatlantischen Freihandelsabkommens, (mit nicht unerheblichen persönlichen Interessen an der Einsetzung von TTIP wie wir noch sehen werden). Er wirkt in der international agierenden „law firm“ Covington & Burling LLP, einer Anwaltskanzlei, die im Bereich internationaler Handel und Finanzen tätig ist. Eizenstat ist politischer Insider und Mitglied der transatlantischen Think-Tank-Community, welche in bedeutsamer Weise Unternehmungen wie TTIP im Vorfeld ausformulierte und mit Texten und Studien promotete.16

Tested once tested in both markets

Eizenstat möchte das Prinzip „Tested once tested in both markets”17 zur Anwendung bringen: Ist ein Produkt in einem der Mitgliedsstaaten getestet und für gut befunden, so hat es automatisch in allen TTIP-Staaten Marktzugang. „Wir sollten doch wirklich im 21. Jahrhundert Vertrauen haben, dass die Regulierungsstandards sowohl in der EU als auch in den USA ausreichend sind, die Bevölkerung zu schützen […] Gegenseitige Anerkennung ist eine noch solidere Basis für die Regulierungskooperation als die eigentliche Harmonisierung.“ Mit dem aus Sicht der TTIP-Befürworter eleganten Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Standards wären aber automatisch die Gesetze und Bestimmungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten ausgehebelt beziehungsweise relativiert. Abgesehen von der Konfusion und ungeahnten Rechtsunsicherheit wäre das ein Betrug nicht nur am Verbraucher, sondern käme im Endergebnis einem Putsch gleich!
Eizenstat will für die Zukunft gemeinsame Regulierungsstandards für EU und USA. Sie sollen strikt wissenschaftlich fundiert sein aber „der kostengünstigsten Variante den Vorzug geben“. Verbraucherschutz ist offensichtlich für die TTIP-Fans eine lästige Formalität, die man auf möglichst billige Weise erfüllen möchte. Abschließend merkt der Cheflobbyist noch befriedigt an, die EU habe begonnen, GVOs in einer Zahl zuzulassen, die, wie „Hiddo Houben [NL], Chef der Handelspolitik der EU-Delegation in Washington angab, bei einem alle zwei bis drei Monate liegt, was den riesigen Rückstand allmählich reduziert.“ Und das ist eines der Ziele von TTIP: Europa als Markt all den GVO-Produkten zu öffnen, die sich bisher noch vor seinen „Handelsbarrieren“ stauten, mithin diesen „Rückstau“ abzuarbeiten.

Der Streit um Hormonmast ist eine Blaupause

Es ist weithin bekannt, dass in den USA in der Tiermast Hormonpräparate zugelassen sind. Entsprechende Verbote in der EU stellen seit Eröffnung der TTIP-Verhandlungen ebenfalls eine unzulässige Handelsbarriere dar.
Allein das Studium dieses jahrzehntelangen Streites seit den 1990er Jahren zwischen EU und der US-Fleischindustrie gibt einen klaren Hinweis für die Unmöglichkeit, hier Standards anzugleichen oder „auszubalancieren“.
Der Hormonstreit wurde vor einem Schiedsgericht der WTO (Welthandelsorganisation) ausgetragen und lieferte eine Blaupause für diese Art von Gerichtsbarkeit außerhalb normaler Gerichtshöfe wie sie auch TTIP plant. Als die EU Mitte der 90er Jahre den Import von US-Rindfleisch verbot, verstieß sie damit gegen WTO-Regeln. Für ein Verbot müssen nach WTO-Regeln „valide wissenschaftliche Beweise“ vorliegen, welche Schutzmaßnahmen erklären können. Doch was ist das genau? Wer definiert sie? Die EU wurde von Kanada und den USA vor einem WTO-Schiedsgericht verklagt und verlor. Daraufhin ging sie in Revision.
Es folgte ein endloser Streit über endogene und exogene Hormone. Letztere waren in der EU nicht, in den USA und Kanada jedoch beide zugelassen. Während die USA und Kanada einen breiten wissenschaftlichen Konsens für die Unbedenklichkeit der Hormonmast sahen, konnte die EU diesen nicht erkennen. Die Nordamerikaner waren insofern im Vorteil, da sie auf jahrzehntelange Erfahrungen und Untersuchungen zu diesem Thema zurückgreifen konnten – sie hatten einfach jede Menge Papier produziert, was in Europa naturgemäß nicht der Fall war. Die EU handelte unter dem Druck der Öffentlichkeit, die damals unter dem Eindruck des Rinderwahnsinns zu keinen Kompromissen bereit war. Dies verstieß jedoch eigentlich gegen die Bestimmungen der WTO, die nur wissenschaftliche Nachweise zuließen. Das WTO-Schiedsgericht urteilte 1997 gegen die EU, sie habe keine wissenschaftlich gültige Risikostudie vorgelegt und daher gegen die WTO-Regeln verstoßen. Die USA und Kanada verhängten daraufhin Strafzölle in Höhe von 125 Millionen Dollar gegen Güter aus der EU.
2004 lieferte die EU Beweise nach: Es gab mittlerweile Studien, die zeigten, dass Hormone im Rindfleisch verbleiben und auch die Umwelt (Wasserläufe, Fische) belasten, dort wo Zuchtbetriebe arbeiten. Dies ließ man jedoch nicht als Risiko für den europäischen Verbraucher gelten (denn die Zuchtbetriebe waren ja nicht in Europa) und die EU verlor erneut gegenüber dem WTO-Schiedsgericht. Die US Food and Drug Administration obsiegte letztlich mit ihrem „wissenschaftlich untermauerten“ Nachweis, dass das Hormonniveau im Rindfleisch nicht hoch genug sein, um Menschen zu gefährden. Die WTO autorisierte die USA und Kanada daraufhin erneut, Strafzölle gegen EU-Waren zu erheben.18
Dieser Vorgang ist in jeder Hinsicht geeignet, uns einen Vorgeschmack dafür zu geben, was passieren wird, wenn TTIP angenommen werden sollte …
Dass es mit Hilfe des Hebels von „wissenschaftlich akzeptierten Standards“ und Schiedsgerichten gelingen könnte, europäische Gesetze und Schutzbestimmungen außer Kraft zu setzen, ist mehr als wahrscheinlich.
Dies macht erneut TTIP-Lobbyist Stuart Eizenstat deutlich: „Die Standards in Europa haben ein anderes Niveau. Und ich finde, die Standards haben ein unbegründet hohes Niveau, das wissenschaftlich nicht fundiert ist. Eine der großen Herausforderungen der Verhandlungen wird es sein, einen Mittelweg zu finden, wonach die Verbraucher in Europa das gleiche Vertrauen haben, was für eine amerikanische Familie gutes Essen ist, sollte auch für Europäer gutes Essen sein.“19

Die TTIP Vertragspartner und ihre Ziele

Bild rechts: © Stephen Finn – Fotolia.com

Partner
• die USA, Kanada, Mexiko (also die Staaten der NAFTA = North American Free Trade Agreement),
• die 27 EU-Staaten,
• die EFTA-Staaten, also Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz (EFTA = European Free Trade Association)
• die EU-Beitrittskandidaten (Mazedonien, Türkei u. a.)


Der Pakt soll
• alle Warenzölle abschaffen
• Hemmnisse für den Handel mit Waren, für Serviceleistungen und Investitionen abschaffen oder einschränken
• Vorschriften und Bestimmungen „harmonisieren“, die transatlantischen Handel und Investitionen behindern können
• Regierungsunterstützung für staatliche Unternehmen oder Bevorzugung von lokal produzierten Gütern und Dienstleistungen abschaffen oder reduzieren
• Biotechnologie und genetisch veränderte Organismen (GVOs) zulassen. Verbote sind nur noch mit „akzeptierten, wissenschaftlich begründeten Standards“ zulässig.
• die Sicherheit und Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln, die Grenzwerte chemischer und toxischer Belastung, das Gesundheitswesen und die Arzneimittelpreise, das Recht auf Privatsphäre im Internet, Energieversorgung und kulturelle Dienstleistungen, Patente und Urheberrechte, die Nutzung von Land und Rohstoffen, die Rechte und die Arbeitsmöglichkeiten von Immigranten, die öffentliche Auftragsvergabe u. v. a. auf „Handelsirritationen“ prüfen und ggfs. revidieren.

Fußnoten

1 US-Denkfabrik, Wegbereiter von TAFTA/TTIP
2 http://www.eubusiness.com/news-eu/us-economy-trade.mda
3 http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ttip/
4 Trans-Atlantic Business Council, Geschichte: http://transatlanticbusiness.org/history-mission/
5 TTIP: Cross-cutting disciplines and Institutional provisions. Position paper – Chapter on Regulatory Coherence (pdf-Datei)
6 Vgl. Report München v. 26.11.2013
http://www.youtube.com/watch?v=1wUqlQKtun8&list=PLMlPHAAddcJzZ-CzI62tH71u80PCpfFUb
7 http://www.quisthoudt-rowohl.de/lokal_1_4_109_Grosse-Koalition-unterstuetzt-EU-US-Freihandelsabkommen.html
8 a. a. O., http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/roesler-will-weitreichendes-freihandelsabkommen-mit-den-usa-a-883792.html
9 Zumindest die Freien Wähler in Bayern bezogen am 12.11.13 und die Piraten am 19.11.13 Stellung gegen TAFTA/TTI.
10 Sie ist Biologin mit Spezialisierung auf Ökosysteme und Bodenschutz und kennt sich aus mit Zulassungsverfahren im Landwirtschafts- und Nahrungsmittelsektor in Deutschland und der EU.
11 http://eurokritiker.com/2013/11/27/interview-mit-doris-bellzum-freihandelsabkommen-zwischen-eu-und-usa/
12 Deutscher Bundestag Drucksache 17/14541, 17. Wahlperiode 08. 08. 2013, Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Dr. Lukrezia Jochimsen, Ulla Lötzer, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE. „Das geplante Freihandelsabkommen TTIP/TAFTA zwischen den USA und der Europäischen Union und seine Auswirkungen auf die Bereiche Kultur, Landwirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Datenschutz“
13 http://www.heise.de/newsticker/meldung/Copyright-einheisses-Eisen-fuer-Freihandels-abkommen-1797339.html
14 EU-Kommission: Transatlantic Trade and Investment Partnership. The Regulatory Part. PDF-Datei
15 Stuart E. Eizenstat: „A new transatlantic partnership”, April 2013. Text basierend auf einer Rede vor dem Wilson International Center for Scholars am 23. März 2013.
http://esharp.eu/essay/23-a-new-transatlantic-partnership/
16 Außerdem war Eizenstat u. a. Präsidentenberater unter Jimmy Carter, in der Clinton-Regierung Botschafter bei der EU (1993–1996); Stellvertretender Minister für internationalen Handel (1996–1997); stellvertretender Minister für Wirtschaft, Handel und Landwirtschaft (1997–1999).
17 Testimony of Ambassador Stuart Eizenstat US Co-Chair, Transatlantic Business Council before The United States House Ways and Means Subcommittee on Trade May 16, 2013, pdf-Datei
18 Vgl. auch http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Beef_hormone_controversy&printable=yes
19 Report München, a. a. O.

Die Autorin

Friederike Beck, Jahrgang 1968, Studium der Geschichte, Slawistik und Anglistik.
Danach Beschäftigung in einem Verlag, heute mehr und mehr schreibend und übersetzend tätig. Außerdem aktiv als Sängerin (Mezzosopranistin bzw. Altistin).
Friederike Beck lebt in Spanien und Deutschland.
http://becklog.zeitgeist-online.de/

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