Epigenetik – Umweltgifte schädigen Embryo

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Glyphosat, Tabak und Traumata knipsen Gene schon im Mutterleib an oder aus – und zwar so nachhaltig, dass diese Veränderungen weitervererbt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Politik noch dringlicher als ohnehin schon gefordert, den Bürger vor Giften und Umweltbelastungen zu schüt...
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Epigenetik – Umweltgifte schädigen Embryo
Von Kurt G. Blüchel, Bergisch Gladbach – raum&zeit Ausgabe 202/2016

Glyphosat, Tabak und Traumata knipsen Gene schon im Mutterleib an oder aus – und zwar so nachhaltig, dass diese Veränderungen weitervererbt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Politik noch dringlicher als ohnehin schon gefordert, den Bürger vor Giften und Umweltbelastungen zu schützen. TTIP wäre eine Katastrophe.

Was ist Epigenetik

Epigenetik (von griechisch „epi“ für „darüber“) repräsentiert eine dem eigentlichen Genom übergeordnete Führungs- und Verwaltungsebene. Tatsächlich machen unsere 20 000 Gene nur einen winzigen Teil der Erbinformation aus – mehr als 98 Prozent bestehen aus einer Vielzahl chemischer Steuerelemente, der eigentlichen Schaltzentrale des Erbguts. Die 442 Forscher des ENCODE-Projekts (Encyclopedia of DNA-Elements) – in sechs Ländern, auf drei Kontinenten – entdeckten den ungeheuren Schatz unserer Vererbungsmaschinerie: insgesamt vier Millionen Schalter, von denen die Gene gesteuert werden. Und bei jedem Menschen ist der Schaltplan verschieden. Zuständig für die Inbetriebnahme oder Stilllegung der Gene sind mannigfaltige Umweltfaktoren. Epigenetische Mechanismen, die wiederum von inneren und äußeren Umweltfaktoren beeinflusst werden, bestimmen aber auch, welche Gene dauerhaft oder nur vorübergehend stillgelegt werden, weil ihre Informationen in der jeweiligen Zelle oder unter den aktuellen Bedingungen gerade nicht benötigt werden. So entscheidet letztlich die Epigenetik über die Funktion von Zellen und Organen.
Da die rund 20 000 Gene und ihre stets unveränderten Informationen in jeder Zelle identisch sind, liegt es allein an der epigenetischen Steuerung, ob Herz oder Hirn, Milz oder Muskel im ungeborenen Baby gestaltet, welche genetischen Informationen aktiviert beziehungsweise deaktiviert werden sollen.
Epigenetische Mechanismen entscheiden aber auch darüber, ob ein Mensch eher dick oder dünn ist, ob er zu Krankheiten wie Krebs oder Diabetes neigt, ob seine Psyche robust oder labil ist. Genom und Epigenom sind deshalb am ehesten vergleichbar mit einem Klavier und dem Pianisten:
Der kostbarste Bechsteinflügel bleibt stumm wie ein Fisch, wenn niemand das Instrument zum Klingen bringt. Die Qualität des Hörgenusses liegt dabei weniger am Klavier selbst als vielmehr an den mehr oder weniger ausgeprägten Fähigkeiten des Pianisten. Ähnlich liegen die Dinge im Erbgut: Erst die Umwelteinflüsse – sie stehen in unserem Bild für den Klavierspieler – sorgen für gute oder eben weniger gute Qualität der Musik.

Gene an und ausschalten

Schon im Mutterleib entscheidet sich, wer krank wird. Oder ein Leben lang gesund bleibt. Das Schicksal eines Menschen ist also nicht, wie uns seit hundert Jahren eingetrichtert wurde, durch seine Gene vorbestimmt, sondern wird erst in Mamas Bauch gewissermaßen programmiert. Nicht selten sogar umprogrammiert. Das belegen vor allem Studien an eineiigen Zwillingen. Diese entstehen immer dann, wenn sich die befruchtete Eizelle und ihr Erbgut in zwei Hälften teilen. Das genetische Material der beiden neuen Anlagen ist absolut identisch. Aber dann werden in jedem Baby aufgrund von zahlreichen Umwelteinflüssen bestimmte Gene angeschaltet, andere stillgelegt. So kommen selbst Zwillinge, die rein äußerlich wie ein Ei dem anderen gleichen, mit einem zum Teil höchst unterschiedlich programmierten Genom zur Welt. Dabei bleiben die Gene selbst völlig unverändert, lediglich ihr jeweiliger Aktionsmodus variiert.

Die Macht der Umwelteinflüsse

Ein internationales Wissenschaftlerteam des brandneuen Forschungszweigs Epigenetik ging diesen Abläufen im Mutterleib unlängst auf den Grund. „Ein Zwilling muss im Mutterleib zumindest kurzfristig anderen Einflüssen ausgesetzt gewesen sein als der andere“, berichten die Forscher um Jeffrey Craig vom Childrens Research Institute (MCRI) im australischen Parkville in der renommierten Fachzeitschrift Genome Research. Die Wissenschaftler folgern aus ihren Beobachtungen, dass einmalige Erfahrungen beziehungsweise winzige Unterschiede in der Gebärmutter enorme Effekte auf die körperliche und seelische Gesundheit haben können.
Auch Sexualität und Intelligenz, seelische Widerstandskraft und Alterungsprozesse werden in der Regel schon während der Schwangerschaft gewissermaßen auf Kiel gelegt. Beeinflusst werden die epigenetischen, also umweltbedingten Schaltersysteme in der Erbmasse der Babys hauptsächlich von Mamas Lebensstil und ihrer Ernährung. Darüber hinaus können Stress in Beruf oder Partnerschaft, traumatische Erlebnisse kurz vor oder während der Schwangerschaft, vor allem aber auch Drogen und Medikamente, Rauchen und Alkohol bestimmte Gene in Betrieb setzen oder stumm schalten.
Die Epigenetik zeigt uns vor allem, dass kleine Dinge im Leben eines Menschen große Wirkung entfalten können. Werden etwa Gene, die normalerweise die Zellteilung überwachen und dieses Geschehen vor Entartung beziehungsweise unkontrolliertem Wachstum schützen, durch bestimmte Umwelteinflüsse abgeschaltet, entwickelt sich Krebs. Können die Blockaden gelöst, die abgeschalteten Gene wieder aktiviert und in Gang gesetzt werden, stellt der Tumor sein Wachstum ein.
Aber auch das Umgekehrte kann passieren: Ein Schalter wird durch Umwelteinflüsse umgelegt, ein Gen wird in Betrieb genommen. Geschieht dies bei einer Gruppe von Erbträgern, die normalerweise abgeschaltet sind, weil sie das Wachstum von Krebszellen fördern, können diese Gene nun ihre verheerende Wirkung entfalten. Der enge Zusammenhang zwischen epigenetischen Mechanismen und Krebs lässt daher viele Forscher hoffen. Denn im Gegensatz zu genetischen Mutationen, die beispielsweise in der Folge von Röntgenstrahlungen Gene dauerhaft schädigen oder völlig zerstören können, lassen sich epigenetische Veränderungen im Prinzip rückgängig machen.

Umdenken im Elfenbeinturm

Selbst in der Hochburg der deutschen Gesellschaft für Genetik e. V., jenem zentralen Sammelbecken insbesondere der alten Garde traditioneller Humangenetiker, scheinen lange verkrustete Lehrmeinungen den neuen Erkenntnissen endlich Platz zu machen. Am 14. März dieses Jahres wurde mit einer Top Story im renommierten Fachblatt Nature Genetics eine Art Kopernikanische Wende in der Genetik eingeläutet. Johannes Beyers vom Institut für Experimentelle Genetik am Helmholtz-Zentrum München erklärt in diesem Zusammenhang: „Wir zeigen mit unserer Studie, dass eine durch Fehlernährung der Eltern erworbene Fettleibigkeit und Diabetes über Eizelle und Spermien an die Kinder vererbt wird. Damit knabbern wir am Neo-Darwinistischen Dogma, wonach erworbene Eigenschaften nicht an die Nachkommen vererbt werden.“
Nicht nur im international renommierten Fachblatt Nature Genetics, sondern auch in der deutschsprachigen Fachzeitschrift BIOspektrum, dem offiziellen Publikationsorgan der Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie, der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie sowie der Gesellschaft für Genetik, verweisen Johannes Beyers und seine Kollegen erstmals auf die „besondere biologische Tragweite“ der „inter- und transgenerationalen epigenetischen Vererbung“. Die Forschung stecke zwar „noch in den Kinderschuhen“ – ihre generelle biologische Bedeutung sei jedoch „noch längst nicht abzuschätzen“.

Tabak prägt Embryo

Im April dieses Jahres gelang Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg in Zusammenarbeit mit Kollegen vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in München womöglich eine Weltsensation. Die Forscher konnten nämlich erstmals den Nachweis erbringen, dass Rauchen nicht nur das Erbgut von Müttern schädigen, sondern vor allem das ihrer ungeborenen Babys umprogrammieren kann. Wenn eine Frau in den ersten Monaten der Schwangerschaft raucht, verändert dieser Tabakkonsum mit Hilfe epigenetischer Regulatoren bestimmte Gene ihres ungeborenen Kindes, berichten Tobias Bauer und Roland Eils vom DKFZ sowie Irina Lehmann vom UFZ in der Fachzeitschrift Molecular Systems Biology. Für ihre Studien werteten sie die Daten von insgesamt 622 rauchenden und nichtrauchenden Müttern und deren Kindern aus. „Wir konnten epigenetische Veränderungen sowohl bei den rauchenden Müttern wie auch im Nabelschnurblut der neugeborenen Kinder nachweisen“, schreiben die Wissenschaftler. Durch diese Entdeckung sei es in Zukunft möglich, jene epigenetischen Schaltsysteme besser zu verstehen, die durch das Rauchen der Mütter im späteren Leben der Kinder so unterschiedliche Krankheiten und Beeinträchtigungen hervorzurufen vermögen wie etwa Krebs, Gefäßerkrankungen, Fettleibigkeit, Rheuma, Impotenz oder auch Einbußen im psychischen und geistigen Bereich.
Steht uns also ein Epochenwandel von Kopernikanischer Dimension ins Haus? Die Ablösung des zerstörerischen Genfatalismus scheint jedenfalls in vollem Gange. Was noch vor ein paar Jahren bei Genetikern einen Schock auslöste und nicht selten als wissenschaftliche Häresie geahndet wurde, wird nun als Top-Erkenntnis gefeiert. Positionen, die noch nach der Jahrtausendwende – zum Teil sogar noch heute! – für ehernes Lehrbuchwissen gehalten wurden, fallen nun plötzlich der rigorosen Revision anheim. Der Helmholtz-Forscher Beyers beeilt sich deshalb zu betonen: „Da epigenetische Prozesse im Gegensatz zu Veränderungen der DNA-Sequenz reversibel“ seien, „sind sie auch therapeutisch hochinteressant“. Und: „Epigenetische Vererbung über die Keimbahn“, also „die Vererbung von Auswirkungen von Umwelteinflüssen zwischen Generationen und über Generationen hinweg“ könnte Beyers zufolge auch „ein wichtiger Faktor in evolutionären Prozessen sein“.
Die tausendfache Behauptung, wonach der Artenwandel auf unserem Planeten aus ungezählten Zufallsprodukten bestehen soll, der Mensch selbst nur der glücklichen Hand in einem evolutionären Würfelspiel zu verdanken sei, scheint jetzt auf einmal Makulatur.

Misshandlung schaltet Gen aus

Verändern Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen oder missbrauchen, dauerhaft die Gene im Hirn der Kleinen? Diese Frage wollte der aus Israel stammende Epigenetik-Pionier Moshe Szyf anhand einiger Hirnproben aus Québec klären. Jungforscher in seinem Labor isolierten die Erbsubstanz DNA aus den Hirnzellen der Selbstmörder und suchten darin nach Spuren, die der frühkindliche Missbrauch hinterlassen haben könnte.
Tatsächlich, so berichtete SPIEGEL-Autor Jörg Blech, ergab die Analyse genau das: „Ein Schlüsselgen in den Zellen des Hippocampus der Opfer funktionierte nicht mehr. Das Gen selbst hatte zwar keinen Schaden genommen, aber es war durch eine chemische Markierung auf ,Aus‘ geschaltet. Zum Vergleich untersuchten die Forscher das Gehirn von Unfallopfern, die bis zu ihrem jähen Ableben ein glückliches Leben geführt hatten. Bei ihnen war das besagte Gen unangetastet.“ Szyf zufolge markieren die Erlebnisse in früher Kindheit oder Jugend das Gehirn. „Diese Markierung bleibt und bewirkt irgendwann etwas Krankhaftes. In den von uns untersuchten Fällen ist es der Selbstmord.“ Damit geht der Forscher weit über die in letzter Zeit öffentlich vieldiskutierte Frage des Missbrauchs im Elternhaus, in Schulen, Kitas oder kirchlichen Einrichtungen hinaus. Seine Vermutungen lassen vielmehr das gesamte Wechselspiel von Umwelt, Genen und Verhalten in einem völlig neuen Licht erscheinen. „Natürlich war längst bekannt“, stellt auch Jörg Blech in seinem Artikel fest, „dass Misshandlungen seelische Wunden hinterlassen. Doch niemand wusste, welche neurogenetischen Vorgänge da am Werk sind.“

Evolution in neuem Licht

Auch für die Erb- und Evolutionsbiologie bedeuten diese epigenetischen Befunde eine tiefe Erschütterung. Es scheint jetzt sogar denkbar, dass kulturelle Einflüsse und Erfahrungen biologisch vererbt werden. Lange galt es als eines der zentralen Dogmen der Biologie, dass lediglich rein zufällige Mutationen der Erbmasse neue Merkmale in nachfolgenden Generationen hervorbringen können. Inzwischen hat sich, da sind sich immer mehr prominente Wissenschaftler aus aller Welt einig, die Situation entscheidend gewandelt und die einst ideologisch begründete Lehre der Genetik ins Abseits manövriert. „Das ist das Ende der Theorie vom egoistischen Gen“, kommentiert etwa die Biologin Eva Jablonka von der Universität Tel Aviv in Israel. „Der ganze Diskurs über Vererbung und Evolution wird sich kategorial verändern.“ Was vor allem für Betroffene besonders wichtig sein könnte: Im Unterschied zu klassischen Erbkrankheiten, die wie ein Damoklesschwert über manchen Familien hängen, ist man epigenetischen Belastungen nicht völlig hilflos ausgeliefert.

Fokus auf Gene die vor Krebs schützen

Auch Krebsleiden gehören Moshe Szyf zufolge auf die Liste der epigenetisch bedingten Leiden. „Gewiss“, sagt er, „Krebs äußert sich als eine Erkrankung der Körperzellen, aber dahinter steckt eine systemische Ursache. Das hat mit dem Immunsystem zu tun. Und dieses wiederum wird durch Umwelteinflüsse bisweilen schon im Mutterleib, spätestens aber durch Stress und Erlebnisse in der Kindheit beeinflusst.“ Als einer der ersten Wissenschaftler hat Szyf schon vor Jahren Hemmstoffe gegen fehlgeschaltete Gene in der Krebsforschung ausprobiert – mit Erfolg; die Tumoren haben sich tatsächlich zurückgebildet. Inzwischen haben die Forscher auch verstanden, warum das so ist: Bestimmte Schutzgene sorgen dafür, dass eine Zelle nicht krankhaft wächst. Wird ein solches Tumor-Suppressor-Gen jedoch infolge bestimmter Umweltfaktoren ausgeschaltet, geht seine Wirkung verloren, der Krebs kann wüten. Wissenschaftler wie Florian Holsboer wollen sich in Zukunft darauf spezialisieren, auf diese Weise entartete Zellen schon sehr frühzeitig allein anhand stillgelegter Schutzgene ausfindig zu machen. Sogenannte ,Krebsnester‘, die wie ein Fluch in manchen Familien grassieren, könnten dann der Vergangenheit angehören – auch „rein vorsorgliche Brustamputationen“.

Unkrautvernichtungsmittel für Kinder und Kindeskinder

Werden am Ende auch die Spuren von Insektenvernichtungsmitteln beispielsweise in Passagiermaschinen der Deutschen Lufthansa und vielen anderen internationalen Fluggesellschaften auf die Sprösslinge übertragen? Und wie sieht es mit Drogen und Alkohol aus sowie mit Rückständen von östrogenwirksamen Chemikalien wie ,Weichmachern‘ vom Schlage eines Bisphenol A oder angeblichen Pflanzenschutzmitteln wie etwa Glyphosat? In Wirklichkeit handelt es sich bei diesem Monsanto-Produkt um einen der gefährlichsten Pflanzenkiller, dessen Vorläufer-Chemikalie im Vietnamkrieg als das berühmt-berüchtigte Entlaubungsmittel Agent Orange in die Annalen einging. In Vietnams Metropole Hanoi des Jahres 2016 gehören solcherart „Spuren“ noch immer zum Stadtbild wie einst die Contergan-geschädigten Menschen hierzulande und anderswo in der Welt. Eine einzige Tablette eines rezeptfrei verkauften, wie „Zuckerplätzchen“ beworbenen Schlafmittels – von Ärzten häufig speziell verschrieben für schwangere Mütter – reichte damals aus, um das Wachstum der Gliedmaßen des nur wenige Wochen alten Embryos zu unterbrechen, Kinder mit verkürzten Armen und Beinen, völlig missgebildeten Knochen und Geschlechtsorganen zu gebären.
Heute reichen – wie derzeit eine Flut wissenschaftlicher Studien nahelegt – ein paar Milliardstel (!) Gramm des nervengiftähnlichen Insektizids Chlorpyrifos, des Weichmachers Bisphenol A oder des Unkrautkillers Glyphosat aus, um bei Ungeborenen den Keim für Brust- oder Prostata-Krebs zu legen, mitunter wohl sogar eine geschlechtliche Umprogrammierung im Mutterleib zu initiieren, so dass Jungen chemisch entmannt und Mädchen als chemische Eunuchen das Licht der Welt erblicken.
Geben Menschen, die nichtsahnend zum Beispiel bayerisches Bier trinken oder von ihren Müttern gestillt wurden, über die Tiefen unseres Erbguts solche heimtückisch wirkenden Umweltfaktoren gar an Kinder und Enkel weiter? Wäre es nicht endlich an der Zeit, einen Aufschrei in der deutschen Öffentlichkeit zu riskieren? Immerhin haben auch Inhaber, Vorstände, Wissenschaftler, Abteilungsdirektoren und Geschäftsführer zu Hause Ehefrauen, Kinder und Enkel, die zunehmend mit Giftstoffen belastete Produkte in Form von Kleidung, Essen oder kosmetischen Präparaten von Chemie-Multis, Nahrungsmittel-Konzernen und Textilherstellern verwenden. Die Contergan-Katastrophe vor einem halben Jahrhundert war vermutlich nicht vorhersehbar, weil in Wissenschaft und Forschung sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch kaum jemand vorstellen konnte, dass Giftstoffe wie seinerzeit Thalidomid im Mutterleib derartige Verwüstungen anrichten könnten. Heutzutage ist gesellschaftliche Blindheit im Hinblick auf Vergiftungen im Mutterleib nicht mehr entschuldbar. „Wir haben es nicht gewusst!“ – Argumente dieser Art sollten weder in Politik und Industrie noch in Wissenschaft und Gesellschaft Schutz bieten vor strafrechtlich relevanter Verfolgung.

Gift für Unkraut und Frösche und Menschen

Der US-amerikanische Biologe und Verhaltensforscher Rick Relyea von der Universität Pittsburgh ist kein passionierter Umweltschützer. Er ist Wissenschaftler und hat sich eine einfache Frage gestellt: Was passiert beispielsweise mit Fröschen, wenn das Unkrautvernichtungsmittel Roundup mit dem chemischen Wirkstoff Glyphosat in ihren Lebensraum gelangt? Die Wirkung hat selbst Relyea erstaunt: „Das überraschendste Ergebnis aus den Experimenten ist, dass eine Chemikalie, die zur Verbesserung der menschlichen Ernährung entwickelt wurde, um etwa auf Soja- oder Weizenfeldern wucherndes Unkraut abzutöten, innerhalb von drei Wochen 98 Prozent aller Kaulquappen und innerhalb von einem Tag 79 Prozent aller erwachsenen Frösche tötete.“ Im Worst-Case-Szenario, bei dem Relyea nach eigenen Angaben die von Monsanto maximal erlaubte Konzentration Roundup versprühte, ließ das Mittel innerhalb weniger Tage beinahe alle Frösche und Kröten verenden. Relyea vermutet, wie Tina Baier in der Süddeutschen Zeitung berichtete, dass es gar nicht der eigentliche Wirkstoff Glyphosat ist, der die Amphibien (und vermutlich auch die Pflanzen) umbringt, sondern die Substanz Tallowamin. Diese werde vielen Roundup-Produkten, auch den in Deutschland handelsüblichen, als sogenannte Formulierung beigemischt. So kann die Europäische Kommission und das von ihr auf Betreiben der Bundesregierung als „Berichterstatter“ eingesetzte Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) immer wieder behaupten, dass die Substanz Glyphosat für Menschen absolut unbedenklich sei. Der Begleitstoff Tallowamin blieb bei solchen Bewertungen stets außen vor. Auch auf einen prüfenden Blick in den Mutterleib hat das BfR bislang verzichtet, weil die Bundeskanzlerin seit ihrer Amtszeit als Bundesumweltministerin im Kabinett Helmut Kohl solche Forschungen laut einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur als „überflüssig und zu aufwändig“ beschied.
Mittlerweile steckt der Unkrautkiller Glyphosat in den Körpern der meisten Deutschen. Drei von vier Bundesbürgern haben mindestens fünfmal mehr von dieser hormonaktiven Chemikalie im Urin als dem geltenden Grenzwert zufolge im Trinkwasser enthalten sein darf. Mit diesem Untersuchungsbefund bestätigte die Heinrich-Böll-Stiftung im März 2016 frühere Testergebnisse, die auf eine verbreitete Belastung der Bevölkerung mit dem Unkrautvernichtungsmittel hinwiesen. Die dreiste Behauptung des BfR-Präsidenten Andreas Hensel, es sei doch wesentlich sinnvoller, wenn Glyphosat sich im Urin befindet als im Körper der Menschen, leugnet die Fakten: Glyphosat mag ausgeschieden werden, Tallowamin verbleibt aber im Organismus und reichert sich bereits im Mutterleib an. Und Tallowamin ist die eigentliche Verbrecher-Chemikalie, sie ist als gelbbraune Flüssigkeit vor allem in Wasser löslich. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass Tallowamin etwa die Atmungsmembran von Wasserorganismen wie beispielsweise von Fröschen oder Kröten zerstört.
Beim menschlichen Embryo verursacht Glyphosat synergistische Effekte, die programmierten Zellselbstmord (Apoptose) und Nekrose (das Töten oder Absterben einzelner Glieder) in menschlichen Nabelschnurzellen, embryonischen Zellen und Placentazellen hervorrufen, da sie die Durchlässigkeit der Zellmembran erhöhen. Zwar wurden bereits 2011 vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) gewisse Einschränkungen erlassen, aber die zumindest für Kröten und Frösche tödliche Substanz ist in Millionen menschlichen Körpern auf alle Zeiten eingelagert.

TTIP ist ein Geschenk für die Konzerne

Glyphosat wird derzeit zum Sinnbild einer pervertierten Politik und Landwirtschaft, die allein industriellen Ertrags- und Arbeitsplatzinteressen folgt, dabei die eklatanten Forschungsdefizite leugnet und die Gesundheit der Bevölkerung in unverantwortlicher, womöglich sogar strafrechtlich relevanter Weise unberücksichtigt lässt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und vor allem das von ihr seit Jahren verhätschelte Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin scheinen Bewunderer der Aktivitäten von Agrar-Multis, insbesondere des Glyphosat-Riesen Monsanto zu sein. Mit der Absegnung des Freihandelsabkommens TTIP nimmt die mächtigste Frau der Welt offenbar ungerührt hin, wie die jahrhundertealte bäuerliche Praxis in unserem Land – Einlagerung eines Teils der Ernte für die Aussaat sowie der Tausch des Staatguts untereinander – zerstört, ja sogar kriminalisiert wird.

Jetzt umdenken

Epigenetiker – die neuen Stars der Lebenswissenschaften – und auch immer mehr andere modern denkende Wissenschaftler fordern demgegenüber dringende Änderungen in den Zulassungsbestimmungen und Umweltrichtlinien. Auch behördlich bereits zugelassene Chemikalien sollten noch einmal auf ihre neurotoxischen und erbgutverändernden Wirkungen hin analysiert werden. Wichtig sei zudem, die Kriterien für diese Tests, wie sie etwa auch bei internationalen Kontrollgremien wie der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) für die Begutachtung hormonaktiver Chemikalien wie Glyphosat und Bisphenol A durchgeführt werden, zu überprüfen. Denn bisher werden dabei zwar akute neurotoxische und krebsverursachende Wirkungen getestet, aber schleichende und insbesondere vorgeburtliche Wirkungen während des Embryonalstadiums nicht erfasst. „Wir müssen weg von der irrigen Annahme, wonach neue Chemikalien und Technologien solange als ungefährlich gelten, bis ihnen das Gegenteil bewiesen wird“, warnen die Forscher. Dann sei es, wie die Vergangenheit immer wieder gezeigt habe, längst zu spät. Um Millionen Kinder und darüber hinaus die gesamte Gesellschaft gegen die heimlich grassierende Pandemie einer schleichenden Vergiftung nachhaltig zu schützen, müsse man jetzt rasch umdenken und entschlossen handeln.

Der Autor

Kurt G. Blüchel, geboren 1934 in einem Frankenwald-Dörfchen (Landkreis Kulmbach). 1962 begann Blüchel seine Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist bei medizinischen und naturwissenschaftlichen Magazinen, darunter zweier Ärztezeitschriften, bei denen er Chefredakteur war. In den folgenden Jahren war er Pressesprecher eines großen Ärzteverbandes und einer Arzneimittelfirma. Er schrieb bisher mehr als 30 gesellschaftskritische Sachbücher, die sich mit den Themen Medizin und Gesundheit, Bionik, bedrohte Tierwelt, Tierversuche, Wald und Jagd sowie mit dem Verhältnis Mensch und Umwelt auseinandersetzten. Als Herausgeber veröffentlichte Blüchel aufwändig gestaltete Großbildbände, die meisten in Zusammenarbeit mit Fachleuten wie Heinz Sielmann, Horst Stern, Hans Hass, Jacques Cousteau, Reinhold Messner und Thor Heyerdahl. Zahlreiche seiner Publikationen wurden Bestseller. Blüchel war Herausgeber der Zeitschriften „draußen“ und „Natur“. Der von ihm 2006 herausgegebene Bildband „Faszination Bionik - die Intelligenz der Schöpfung“ war Initialzündung und Begleitbuch der ARD-Fernsehsendung „Die grosse Show der Naturwunder“, die soeben ihr 10-jähriges Jubiläum feierte. Für seine schriftstellerische Tätigkeit als Autor wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Kurt G. Blüchel lebt heute mit seiner Frau in Bergisch Gladbach. Er hat drei Kinder, fünf Enkel und drei Urenkel.

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