Die Essenz der Homöopathie nach Sankaran

Das verborgene andere Lied

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Kopfschmerzen, Muskelschwäche, Herzrasen – wie kommt man vom Symptom zum passenden homöopathischen Mittel? Der indische Homöopath Dr. med. Rajan Sankaran hat eine faszinierende Methode entdeckt, vom jeweiligen Symptom über das individuelle&nb...
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Die Essenz der Homöopathie nach Sankaran
Interview mit Dr. Rajan Sankaran, Mumbai, Indien, von Anne Devillard und Heidi Brand, München – raum&zeit Ausgabe 218/2019

Kopfschmerzen, Muskelschwäche, Herzrasen – wie kommt man vom Symptom zum passenden homöopathischen Mittel? Der indische Homöopath Dr. med. Rajan Sankaran hat eine faszinierende Methode entdeckt, vom jeweiligen Symptom über das individuelle Erleben und Kerngefühl der Person zum passenden homöopathischen Mittel zu finden. Sein pragmatischer Grund dafür: So sind die therapeutischen Ergebnisse voraussagbar und reproduzierbar. Im Interview erklärt Sankaran die Hintergründe.

Pionier der Homöopathie

Der indische Arzt Dr. med. Rajan Sankaran ist weltweit bekannt für seine innovativen Konzepte und die Entwicklung seiner speziellen Methode der Fallaufnahme in der Homöopathie. Die Homöopathie hat ihn von klein auf begleitet durch seinen Vater, einen in Indien renommierten homöopathischen Arzt, und seine Bekanntschaft mit berühmten Homöopathen wie Dr. Shankar Raghunath Phatak.
Im Zentrum seiner Arbeit steht die „Empfindungsmethode“. Mit großer Präzision hat er außerdem ein klares Schema der drei Naturreiche – Mineral-, Tier- und Pflanzenreich – und den ihnen zugeordneten zentralen Empfindungen aufgebaut und damit eine systematische Ordnung der Arzneimittelgruppen ermöglicht.
Dr. Sankaran steht in engem Kontakt zu einem größeren Kollegenkreis, zu dem der bekannte Homöopath Jayesh Shah gehört. Mit ihm und mehreren Kollegen gründete er eine Arbeitsgruppe, die als die „Bombay Schule“ bekannt ist. Eine enge Weggefährtin ist auch seine Frau Dr. Divya Chhabra, eine großartige homöopathische Ärztin, die ihren Schwerpunkt auf das freie Assoziieren legt. Sie beide haben zahlreiche Arzneimittelprüfungen durchgeführt.
In seiner „International Academy of Advanced Homeopathy – The One Song“, bietet Sankaran Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene und intensive Trainings mit namhaften Homöopathen an. Er ist für seine weltweite rege Seminartätigkeit – unter anderem in Europa, den USA, Neuseeland, Südafrika und Japan – sehr geschätzt.
Das folgende Interview wurde von Heidi Brand und Anne Devillard im Rahmen der Veröffentlichung ihres Buches „Die Pioniere der Homöopathie im 21. Jahrhundert“ geführt.

Anne Devillard/Heidi Brand: Herr Dr. Sankaran, Sie sind ein berühmter Homöopath, bekannt als Begründer der sogenannten Empfindungsmethode. Was hat Sie motiviert, diese spezielle Methode der Fallaufnahme zu entwickeln?
Dr. med. Rajan Sankaran: Die Absicht hinter dieser Arbeit war es, ein System auszuarbeiten, das durchgängige Ergebnisse hervorbringt, die man Fall für Fall reproduzieren kann. Denn als ich mit der Homöopathie anfing, hatten wir gute Erfolge, aber wir konnten sie nicht in jedem Fall reproduzieren. Als ich mich mit der Voraussagbarkeit von Ergebnissen auseinandersetzte, begriff ich, dass sie nur durch ein klares Verständnis der Krankheit und der dazu passenden Arznei erreicht werden konnte. Das gesamte Konzept musste also so klar werden, dass es jedem Homöopathen gelingt, das richtige Mittel zu finden – und zwar sicher zu finden.
Bislang war es in der Homöopathie – so wie ich sie kannte – so, dass die Herangehensweise sich auf Symptome bezog. Der Patient nannte eine ganze Anzahl von Beschwerden, der Homöopath wählte daraus nach Wichtigkeit vier oder fünf aus und suchte dann nach der Arznei, welche diese Symptome abdeckte. Diese Methode war zwar erfolgreich, aber nicht vollkommen. Der Grund für die Fehlschläge war ganz einfach: Wählte man diese vier  Symptome aus, gelangte man zu dem einen Mittel, wählte man vier andere, kam man auf ein anderes Mittel. Und wenn sich zwei Mittel sehr ähnelten, wusste man interessanterweise nicht wirklich, was man tun sollte. Bei ein und demselben Fall konnte mit fünf Symptomen Sulphur hochkommen, aber auch Lachesis oder Phosphorus, weil es Symptome gibt, die sie alle gemeinsam haben. Aber die Mittel entstammen völlig unterschiedlichen Quellen und entsprechen völlig verschiedenen Zuständen. Wenn man sich nur auf die Symptome stützt, entsteht Verwirrung.
Also dachte ich mir, wir sollten etwas haben, was mehr auf einem System basiert, anstatt uns allein auf die Symptome zu verlassen. Wir sollten uns zunächst fragen, worum es bei diesem Patienten eigentlich geht. Mit welcher Geschwindigkeit und wie tiefgreifend gehen die Beschwerden vonstatten? Wie viel Verzweiflung und Hoffnung empfindet der Patient? Wie nimmt er Dinge wahr?
Es müsste also etwas Tieferes im Hintergrund geben, das für das Verständnis der vorhandenen Thematik entscheidend ist. Mit der Zeit habe ich erkannt, dass alle Symptome, und insbesondere die Gemütssymptome, der Ausdruck einer spezifischen, individuellen Art sind, auf die Realität zu reagieren.
Dann stellte sich die nächste tiefer liegende Frage: „Wo kommen diese Reaktionen her?“ Wir haben uns dann auf eine tiefere Ebene begeben, und während wir Fälle tiefer verstanden haben, wurden die Voraussagbarkeit und die Konsistenz der Ergebnisse deutlich besser. So kam das Konzept der Vitalempfindung und der sieben Ebenen des Erlebens im Menschen zustande.

Die Vitalempfindung

A. D./H. B.: Wenden wir uns zunächst dem Begriff der Vitalempfindung zu. Was ist darunter zu verstehen?
Dr. R. S.: Die Grundidee ist, dass jedes gesundheitliche Problem, jede Pathologie, worüber ein Patient klagt, Ausdruck eines Aufruhrs in seinem gesamten Wesen ist. Wir betrachten jedes einzelne Symptom als eine Störung der Lebenskraft. Körper, Geist und Seele drücken die gleiche Störung aus. Der Körper zeigt es direkter und klarer, aber wenn wir dann in die Tiefe gehen, kommen wir auf die Gemeinsamkeit von Seele und Geist.
Auf jeden Fall wird die Kernempfindung eines Menschen immer besonders klar in dieser Hauptsymptomatik abgebildet. Die Art und Weise, wie diese Person ihre Hauptbeschwerde beschreibt, liefert uns ein genaues  Bild ihrer Kernempfindung, die in ihrer Erfahrung praktisch überall zu finden ist. Diese nicht wirklich natürliche, sondern alles färbende Empfindung nennen wir Vitalempfindung.
Die vitale Empfindung ist also die tiefste Erfahrung, das tiefste Erleben des Patienten. Sie geht über die Logik, den Verstand hinaus. Sie ist etwas, das sich durch das ganze Leben wie ein roter Faden zieht. Jedes Erleben, jede Erfahrung des Patienten in seinem Leben ist Ausdruck einer tiefen, ganz weit darunter liegenden Erfahrung.

A. D./H. B.: Wie schaffen Sie es genau, dieser Vitalempfindung auf die Spur zu kommen?
Dr. R. S.: Durch den Prozess der Fallaufnahme. Was wir machen, ist Folgendes: Wir untersuchen das, was bei den Patienten am hervorstechendsten ist zum Zeitpunkt, wenn sie zu uns kommen. Im Verlauf des Anamnese-Gesprächs und durch die Art der Befragung kommen die Patienten mehr und mehr mit einem Kernaspekt von sich in Kontakt. Durch diese verfeinerte Selbstwahrnehmung wird ihnen klar, dass alles – von ihren körperlichen Symptomen bis hin zu ihren Emotionen und Träumen – auf dieser tiefen Ebene miteinander verknüpft ist.
Das Ziel des Gesprächs ist es, den äußeren Ausdruck der Störung in zunehmend tiefer gehenden Ebenen aufzuspüren. Ich habe erkannt, dass man hier methodisch und gleichzeitig recht direkt vorgehen kann. Man nimmt das Problem, das der Patient schildert, und stellt ihm dazu ganz einfache, nicht-suggestive Fragen. Man bittet ihn zu erklären, was er genau fühlt und erlebt. Während er dies beschreibt, greift man seine Ausdrucksweise auf und bittet ihn, darüber noch etwas mehr zu erzählen oder es zu verdeutlichen. So dringen wir Schritt für Schritt tiefer in den Fall vor, bis wir das Zentrum, den Kern erreichen, einen Punkt, an dem sichtbar wird, wie alle Ausdrücke von Geist und Gemüt, Körper und Pathologie dieses eine Zentrum, diesen einen Kernbereich widerspiegeln.
Ein Mensch hat zum Beispiel Kopfschmerzen, dann befragen wir ihn zu seinen Kopfschmerzen: „Erzählen Sie mir von Ihren Kopfschmerzen.“ Wenn der Patient sagt: „Sie sind berstend – wie eine Bombe“, dann fordern wir ihn auf, „berstend“ und „wie eine Bombe“ zu beschreiben. Berichtet er dann, dass die Kopfschmerzen plötzlich auftreten und Panik verursachen, dann stellen wir fest, dass er hier bereits mehr über sich selbst spricht als über die Kopfschmerzen. Der Kopfschmerz selbst tritt langsam in den Hintergrund, und etwas Umfassenderes, Zentraleres kommt zum Vorschein. Folgen wir dieser Spur immer weiter, gehen wir immer mehr in die Tiefe, erreichen wir das Zentrum des Falles. Das ist die Technik, die wir in der Empfindungsmethode anwenden. Und bei dieser Art der Anamnese erreicht man für gewöhnlich einen Punkt, an dem der Patient zur Beschreibung seiner innerlichen Erfahrungen seine Hände als zusätzliches Ausdrucksmittel mit einsetzt. Wir verstehen diese Handbewegung als direkten Ausdruck der fehlgeleiteten Energie, und bei Konzentration auf diese Geste werden viele weitere Dinge offenbar.
Das heißt, an der Art und Weise, wie ein Patient seine körperlichen Beschwerden ausdrückt, können wir erkennen, was für ein Muster sich in diesem Menschen verbirgt. Und dieser Mensch bestätigt dieses Muster wieder und wieder in den unterschiedlichsten Bereichen seines Lebens.
Das Erstaunliche ist, dass – egal welche Aspekte wir bei den Patienten anschauen: die Stresssituationen, die Interessen, die Hobbys, die Träume, die Ängste, die Kindheit usw. –, wir in jedem dieser einzelnen Aspekte, die äußerlich so verschieden wirken, auf die gleiche Empfindung stoßen.
Wenn wir das Eigentümliche und Individuelle an einem Menschen bis zur Ebene der Empfindung erforscht haben, stellen wir also fest, dass alle Einzelaspekte dieselbe Sprache sprechen. Dann sind wir sicher, es handelt sich hier um das Grundmuster, um die Art und Weise, wie diese Person Lebenssituationen wahrnimmt und auf diese reagiert. An diesem Punkt drückt der Patient für uns sehr deutlich aus, was er benötigt, und das für ihn passende Mittel wird deutlich.

A. D./H. B.: Das heißt, das System besteht darin, offen zu sein, dem Patienten viel Raum zu geben und ihn in die Tiefe zu führen, bis er sich seiner Kernerfahrung bewusst wird?
Dr. R. S.: Der Patient kann uns überall hinführen, einmal um den ganzen Globus, aber er wird immer auf die Kernerfahrung zurückkommen. Das ist der Anker seines Lebens und des ganzen Falles. Hier gibt es keine Überraschungen. Aus diesem Grund enthält dieses System das große Potenzial der Voraussagbarkeit.

Das verborgene andere Lied

A. D./H. B.: Sie sagten vorhin, dass wenn man bei der Ebene der Empfindung angelangt ist, alle Aspekte des Lebens des Patienten das Gleiche ausdrücken. Können Sie das näher erklären?
Dr. R. S.: Es scheint, als ob jeder Mensch neben seinem ganz eigenen menschlichen Lied ein anderes Lied singen würde, das einer anderen Welt entspringt. Diese zweite Melodie wird erst wahrnehmbar, wenn man näher hinhört. Das nenne ich „das innere Lied“ oder „das andere Lied“.
Es ist, als ob ein zweiter Geist in uns leben würde, der nicht spezifisch menschlich ist, sondern in Resonanz zu einem der drei Naturreiche – dem Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich – steht. Unser menschliches Lied spielt im Alltag häufig im Vordergrund und das andere Lied im Verborgenen. Es schlägt sich in den Empfindungen nieder, die wir in verschiedenen Situationen spüren und äußern, ebenso wie in den äußeren Gesten, mit denen wir dieses innere Erleben begleiten. Diese Empfindungen können unzählige Formen annehmen – sich als Emotionen, körperliche Symptome, Schmerzen usw. zeigen.
Auf diese Konstante, die Empfindung, müssen wir unser Ohr einstimmen. Das ist das Ziel, zu dem wir den suchenden Menschen hinführen müssen. Und da findet sich der Hebel, der urplötzlich die Tür zu einer anderen und bis dahin verborgenen Welt öffnet. Dass wir erkennen, zu welchem Naturreich das Muster dieses Menschen gehört, macht es leichter, das passende homöopathische Mittel zu finden. Die drei Naturreiche sind von sehr unterschiedlicher Energie.

Die Naturreiche

A. D./H. B.: Können Sie uns einen kleinen Einblick in diese verschiedenen Reiche geben?
Dr. R. S.: Das Pflanzenreich: Pflanzen besitzen eine hohe Sensibilität für innere und äußere Veränderungen. Ständig müssen sie auf veränderte Umgebungsbedingungen reagieren und sich darauf einstellen. So findet man bei einem Menschen, dessen Arznei pflanzlicher Natur ist, ganz in der Tiefe diese Empfindsamkeit, Reaktivität und Anpassungsfähigkeit in allen Bereichen seines Lebens – in seinen körperlichen Symptomen ebenso wie in seiner Imagination, seinen Ängsten, seinen Träumen.
Bei meinen weiteren Forschungen mit dem Pflanzenreich unter homöopathischen Gesichtspunkten war es sehr interessant zu entdecken, dass offenbar jede Pflanzenfamilie ihre ganz eigene Sensibilität besitzt, also eine Empfindung, die bei allen Arten einer bestimmten botanischen Familie zu beobachten ist. Die Familie der Terebinthengewächse, der Anacardiaceae, beispielsweise hat als gemeinsame Empfindung Steifheit, Enge, Gefangensein und Sich-nicht-Bewegen-Können. Bei der Familie der Wolfsmilchgewächse, der Euphorbiaceae, finden sich Empfindungen von Gebundenheit und Ungebundenheit, so wie eine Schnur fest gebunden oder locker sein kann.
Das Tierreich: Das Grundthema eines Menschen, der eine Affinität zum Tierreich hat, hat mit Überleben, Rivalität und Opfer-Aggressor-Situationen zu tun. Es geht um den Kampf von einem gegen den anderen und um den Sieg des Stärkeren.
Wie bei den Pflanzen unterscheiden wir bei den Tieren Untergruppen mit unterschiedlichen Überlebensmustern. Die verschiedenen Spezies mit ihren Untergruppen, wie die Säugetiere, Schlangen, Spinnen, Vögel, Fische etc., sichern sich das Überleben mit unterschiedlichen Strategien: Bei den Säugetieren beispielsweise unterscheidet man zwischen den Raubtieren und den Beutetieren: Während ein Raubtier stets der Angreifer ist und sein Revier immer gegen Konkurrenten verteidigt, lösen Angriffe bei den Beutetieren Angstreaktionen aus. Entweder erstarren sie oder sie ergreifen die Flucht.
Die Reptilien haben ein ganz anderes Verhalten: Sie sind eher listig und verschlagen. Ihre Strategie besteht darin, im Hinterhalt das Opfer auszuspähen und es im richtigen Moment zu überfallen. Es ist sehr erstaunlich zu beobachten, wie die Überlebensstrategie eines Tieres genau vom Patienten wiedergegeben wird, durch die Ausdrücke, die er verwendet, um seinen Zustand zu beschreiben, und die Gesten, die seine Worte begleiten.
Auch die Spinnentiere, zu denen neben den Spinnen auch Skorpione, Milben und andere Lebewesen gehören, haben etwas Verschlagenes und Hinterhältiges. Viele Spinnen fangen ihre Beute in eigens dafür konstruierten Fallen. Man könnte sich fragen, ob Menschen, die diese Vorgehensweise an den Tag legen, sich nicht auf einer tiefen Ebene als klein und schwach wahrnehmen.
Bei den Insekten haben wir das Thema der Nahrung und Vermehrung, also des unmittelbaren Überlebens. Ihre typische Angriffsform ist der plötzliche Stich.
Die Vögel wiederum fühlen sich nur im Luftraum in ihrem Element. Die Leichtigkeit des Fliegens, das Gefühl der Freiheit und Weite, der Grenzenlosigkeit in allen Richtungen – das ist die tiefste Empfindung von Menschen, in denen das Vogellied klingt.
Die Mollusken oder Weichtiere haben als Überlebensstrategie den Rückzug in ihre Schale. Wenn ein Mensch das Molluskenlied in sich trägt, erlebt er sich als weich und verletzlich und sorgt für eine harte Schale, in die er sich zurückziehen kann. Da fühlt er sich sicher, aber diese Sicherheit hat ihren Preis: Er ist isoliert, wie im Gefängnis, und kann nicht viel an der Welt draußen teilnehmen. Auch hier kommt die Überlebensstrategie dieser Menschen auf einer tiefen Empfindungsebene in Worten und Gesten zum Ausdruck.
Das Mineralreich: Bei den Mineralen ist es anders: Hier geht es um Struktur. Alles ist geordnet und überschaubar, was die Tabelle des Periodensystems mit ihren nach Atomgewicht geordneten Mineralen exakt darstellt.
Das Grundthema eines Menschen, der eine Arznei aus dem Mineralreich braucht, ist die Festigkeit der eigenen Struktur oder der drohende Strukturverlust. Es geht ihnen stets um die durch Struktur gegebene Sicherheit, die sie besitzen oder herstellen können. Die grundlegende Frage ist: „Werde ich diese Kraft und diese Festigkeit erhalten können oder verlieren?“
Die verschiedenen Grundmuster des Patienten zu studieren, ist in der Praxis extrem hilfreich. Es geht um eine bestimmte Kernempfindung, und bei der Fallaufnahme geht es darum, diese Empfindungen aufzudecken.

Heilung und Vertrauen

A.D./H. B.: Durch Ihre Empfindungsmethode sind Sie in der Lage, tiefe Transformationsprozesse in Ihren Patienten zu beobachten.
Dr. R. S.: Mich beeindruckt sehr, was in den letzten 25 Jahren passiert ist. Ich praktiziere die Homöopathie nun bereits seit 40 Jahren. Als ich mit dieser Heilkunst anfing, wusste ich, dass sie wirkt. Ich habe wunderbare Heilungen erlebt, Wunder beobachten können. Wenn man mich aber vor vielen Jahren gefragt hätte, ob ich in der Lage sein werde, einem kranken Patienten mit tiefer Überzeugung und Zuversicht aufgrund der homöopathischen Gesetze und wiederholter Heilungen zu versichern: „Ihnen wird es besser gehen! Sie werden gesund werden!“, hätte ich daran gezweifelt. Man erkennt einen guten Homöopathen an dem Maß des Vertrauens, das er in seine Verschreibungen hat. Ein einfaches: „Nehmen Sie dieses Mittel und es wird Ihnen besser gehen!“ – das ist das Maß an Vertrauen, das ich mir damals für mich gewünscht hatte.
Als ich acht, neun Jahre alt war, bekam meine Mutter eine akute Blinddarmentzündung. Mein Vater sollte am nächsten Tag in eine andere Stadt fahren, um Homöopathie zu unterrichten. Bereits am Nachmittag zuvor hatte sie starke Schmerzen in der rechten Seitengegend, die mit Rebound-Empfindlichkeit, Fieber, dem Drang, sich zu übergeben, verbunden waren – alles klassische Symptome einer akuten Blinddarmentzündung. Als ich meinen Vater aufgeregt fragte: „Vater, wie kannst du überhaupt wegfahren?“, antwortete er in einem ganz ruhigen Ton: „Keine Sorge, ihr wird es morgen gut gehen.“ Und es ging ihr gut! Bereits am Abend ging es ihr viel besser.
Ich habe auch von C. M. Boger eine ähnliche Geschichte gehört. Eines Tages wurde er gerufen, um einen Typhus-Fall zu behandeln. Er ist also zum Haus der Eltern gegangen, um das Kind zu begut achten. Am elften Tag der Erkrankung ging es dem Kind zunehmend schlechter. Boger nahm den Fall auf, verschrieb aber kein Mittel. Als die Eltern erstaunt fragten, warum er dem Kind kein Mittel gab, antwortete er: „Weil das Symptom noch nicht da ist. Ich komme morgen wieder.“ Er hatte noch kein charakteristisches Symptom. Am nächsten Tag tat er das Gleiche: Er kam und verschrieb nichts. Die Eltern waren verzweifelt. Als er am darauffolgenden Tag zu ihnen kam, sagte er: „Heute sehe ich das charakteristische  Symptom. Geben Sie dem Kind dieses Mittel, und morgen wird es ihm wieder gut gehen.“ So viel Vertrauen hatte er.
Dieses Maß an Vertrauen und Zuversicht konnte ich erst in der letzten Zeit durch die Anwendung der Synergie zwischen den verschiedenen Ebenen erlangen. Alle drei Ebenen müssen berücksichtigt werden: die allgemeine Ebene, die Symptomebene und die Empfindungsebene. Die früheren Meister haben es den dreibeinigen Stuhl genannt. Wenn wir eine Arznei auf der Basis dieser drei Ebenen wählen, können wir vertrauen, dass das Mittel wirkt.
Was mir die Empfindungsmethode gegeben hat, ist ein zusätzliches Werkzeug, das ich zusammen mit allen anderen Wissenszweigen verwende. Das ist ein sehr mächtiges Werkzeug.

Sich über den Patienten seiner selbst bewusst werden

A. D./H. B.: Man kann diese innere Sicherheit entwickeln, wenn man selbst erlebt hat, wie sehr man dem menschlichen Organismus vertrauen kann. Haben Sie im Laufe der letzten 35 Jahre Ihrer Arbeit diese Transformationsprozesse in sich selbst gespürt?
Dr. R. S.: Mit den Patienten haben wir die Möglichkeit, ins tiefste Innere, in den Kern des anderen Menschen vorzudringen, und auf dieser Reise wird man sich einer Menge Dinge bewusst. Man wird sich seiner selbst bewusst und erkennt, dass auch die eigenen Probleme und der eigene innere Aufruhr Ausdruck von etwas sind, das tief im Inneren sitzt.
Während man dem Patienten hilft, sich auf sein Inneres zu konzentrieren, und sich mit ihm auf eine Reise begibt, findet der gleiche Prozess im eigenen Inneren statt. Alles geschieht nonverbal, ohne Analyse oder Interpretation, nur durch direktes Erleben. Während man mit dem anderen bis zum Kern seiner zentralen Empfindung hinabsteigt, wird man mit seiner Selbstwahrnehmung konfrontiert. Wenn ein Patient vor mir sitzt, gehe ich in seinen Zustand mit einem reinen Geist hinein. Ich habe keine vorgefertigte Meinung, keine Vorstellung. Ich bin ganz und gar mit diesem Menschen. Im Laufe der Zeit, wenn man bei anderen Menschen so viele unterschiedliche Welten, so vielfältige Reaktionen und Lebensmuster beobachtet hat, lernt man, eine Art von Zeuge zu sein. Man beurteilt niemanden mehr. Man beobachtet nur die Phänomene, wie sie sind. Man erkennt, dass dieser andere Mensch sich nicht grundsätzlich von einem selbst unterscheidet. Es gibt niemand anderen außer einem selbst. Es gibt kein „Du“ in diesem Prozess. Eine Art von Ablösung findet statt. Das Ich tritt in den Hintergrund. Alle diese unterschiedlichen Menschen sind wir selbst in unterschiedlichen Formen. Es gibt kein Richtig oder Falsch, Gut oder Schlecht. Es sind einfach die unterschiedlichen Farben des Regenbogens. Es ist wie eine Befreiung, denn man macht sich keine Vorwürfe mehr oder man steckt sich – und den anderen – nicht mehr in eine Schublade. Die Identität verschwindet. Der Geist expandiert. Man ist universeller als dieses kleine begrenzte Selbst.

Das Interview ist in voller Länge in „Die Pioniere der Homöopathie im 21. Jahrhundert“ Von Heidi Brand & Anne Devillard (Narayana Verlag, www.narayana-verlag.de) nachzulesen.

Die Autorinnen

Anne Devillard war 30 Jahre lang Chefredakteurin der Zeitschrift „natur & heilen“. Sie ist ausgebildet in klassischer Homöopathie und Autorin des Bestsellers „Heilung aus der Mitte - Werde der, der du bist“ mit Interviews mit hochkarätigen Persönlichkeiten zum Thema Ganzheitliche Heilung.
www.annedevillard.de

Heidi Brand ist Klassische Homöopathin mit 30-jähriger Praxis-Erfahrung und 20-jähriger Interview-Tätigkeit. Sie ist die Autorin des unter den Homöopathen sehr geschätzten Buches „Chara intermedia – Die reinigende Kraft der Armleuchteralge. Eine homöopathische Studie mit Fallbeispielen“.
www.heidi-brand.de

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