Der erste Atomreaktorunfall 1949

Die verbotene Stadt Chelyabinsk-40

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© iStockphoto.com/Hans F. Meier

Die folgende Beschreibung der ersten russischen Atomkatastrophe vor 59 Jahren kommt in der internationalen Literatur über die Geschichte der Atomwaffen und Kernenergienutzung bisher nicht vor. Der Autor des hier referierten Berichtes, Zhores Medwedjew, Biochemiker und Historiker, wurde durch di...
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Der erste Atomreaktorunfall 1949
Von Stephan Pflugbeil, Berlin – raum&zeit newsletter/2008

Die folgende Beschreibung der ersten russischen Atomkatastrophe vor 59 Jahren kommt in der internationalen Literatur über die Geschichte der Atomwaffen und Kernenergienutzung bisher nicht vor. Der Autor des hier referierten Berichtes, Zhores Medwedjew, Biochemiker und Historiker, wurde durch die Aufdeckung der schrecklichen Katastrophe in Kyshtym 1958 bekannt. In einer Art forensischer Biologie fielen ihm zahlreiche Publikationen auf, in denen gehäuft über genetische Veränderungen an verschiedenen Pflanzen und Tieren berichtet wurde, ohne Angaben, worauf diese Veränderungen wohl zurückgehen könnten. Er rekonstruierte dann minutiös, wo genau diese Pflanzen und diese Tiere gemeinsam vorkommen – das war in der Umgebung von Kyshtym auf der Ostseite des Urals. Er stach damit quasi in ein Hornissennest und musste 1973 ins Exil gehen. Seither lebt er in London. Der folgende Text beruht auf Informationen aus dem Buch über den „unbekannten Stalin“.

Eine geheim gehaltene Katastrophe

Der erste wirklich ernste Atomreaktorunfall fand im Januar 1949 in Chelyabinsk-40 statt. Er wurde erst durch eine Entscheidung der Leiter des Sowjetischen Atomprojektes zu einer radioaktiven Katastrophe. Details dieser Geschichte blieben bis 1995 geheim, und die Zahl der Opfer blieb dies bis zum heutigen Tage. Dabei ist es möglich, dass hier sogar mehr Menschen starben als in Tschernobyl. 

Was geschah in Chelyabinsk 40

Etwa 150 Tonnen Uran waren damals in den ersten industriellen Reaktor geladen worden. Am 8. Juni 1948 wurde er „kritisch“ und am 22. Juni erreichte er die projektierte Leistung von 100 Megawatt. 

Reaktoren, die zur Produktion von Plutonium gebaut wurden, waren einfacher konstruiert als die Reaktoren der nächsten Generation, die zur Produktion von Elektrizität gebaut wurden. In Leistungsreaktoren findet die Dampferzeugung unter hohem Druck statt, während militärische Reaktoren Wasser nur zur Kühlung der Uranzylinder benötigen. Die kleinen Uranzylinder, 37 Millimeter im Durchmesser und 102,5 Millimeter in der Höhe, waren von einer dünnen Aluminiumhülle umgeben. Sie wurden in Aluminiumröhren gesteckt, die einen Innendurchmesser von etwas mehr als 40 Millimeter und eine Länge von etwa 10 Metern hatten. Diese wurden der Reihe nach in Graphitblöcke versenkt. 

Die Funktion des Graphits bestand darin, die Neutronen während der Kettenreaktion abzubremsen. Die Uran-235-Spaltungs-Kettenreaktion begann, als der Reaktor mit etwa 150 Tonnen Natururan beladen war. Wasser, das im Innern der Aluminiumröhren zirkulierte, bewahrte die Uranzylinder vor einer Überhitzung infolge des Spaltprozesses oder der Ansammlung heißer Radionuklide. Es gab im ersten Reaktor 1 124 Röhren, die etwa 40 000 Uranzylinder enthielten. Während der Uran-235-Spalt-Kettenreaktion erzeugten die Neutronen, abgebremst durch Graphit, Plutonium-239 aus Uran-238. In Abhängigkeit von den Betriebsbedingungen des Reaktors konnte sich der Prozess der Plutoniumerzeugung über mehr als ein Jahr erstrecken. Die Konstruktion des Reaktors gestattete es, die Uranzylinder aus den Aluminiumröhren in ein benachbartes Wasserbecken zu entladen. Nach der Abkühlung im Wasser für etliche Wochen, in denen der Zerfall der hochradioaktiven gasförmigen kurzlebigen Radionuklide sichergestellt wurde, konnten die Zylinder in eine radiochemische Fabrik transportiert werden. 

Undichte Aluminiumröhren

In jenen Tagen gab es noch keine langjährige Forschung zum Verhalten von Metallen, insbesondere Aluminium, unter den Bedingungen einer starken Neutronenstrahlung und hoher Temperaturen. Deshalb kam es völlig überraschend, dass die Aluminiumröhren begannen, undicht zu werden und das Kühlwasser mit dem heißen Graphit in Kontakt kam. Starke Bestrahlung, begleitet von einem ständigen Kontakt mit Wasser und Graphit bei hohen Temperaturen, hat das Aluminium weiter korrodieren lassen. 

Nachdem der Reaktor fünf Monate gelaufen war, wurde klar, dass er nicht weiter arbeiten konnte. Das war nicht länger eine überschaubare Panne, sondern es bedeutete den Zusammenbruch des ganzen Programms. Am 20. Januar 1949 wurde der Reaktor abgeschaltet und Stalin informiert. 

Zwei Lösungsmöglichkeiten

Für jene, die im Dienst des Atomprojektes standen, gab es zwei Wege aus dieser Situation: Sie konnten eine sichere Lösung wählen oder einen Kurs einschlagen, der beträchtliche menschliche Opfer fordern würde. Die erste Möglichkeit wäre relativ leicht machbar gewesen. Man hätte die Uranzylinder über die technischen Notkanäle in das benachbarte Wasserbecken gebracht, sie dann nach und nach in die radiochemische Fabrik transportiert und das bis dahin erzeugte Plutonium abgetrennt. 

Aber dieser Weg war aus verschiedenen Gründen problematisch. Bei der Entnahme der Uranzylinder aus dem Reaktor, die teilweise womöglich nur durch Anwendung von etwas Gewalt möglich war, bestand die Gefahr, die dünne Aluminiumhülle der Blöcke zu verletzen. Solche Blöcke wären dann für die weitere Verwendung unbrauchbar. 

Chelyabinsk-40 liegt 15 Kilometer östlich der Stadt Kyshtym, in der sich 1957 ein weiterer GAU ereignete. Die Karte zeigt die großen Nuklearreaktoren Russlands.

Niemand war in der Lage, genau abzuschätzen, ob sich in der Uranbeladung des Reaktors genug Plutonium für den Bau wenigstens einer Atombombe angesammelt hatte. Es war auch nicht klar, wie viel Plutonium in dem radiochemischen Separationsprozess verloren gehen würde. Es war also wichtig, einige Reserven an Plutonium zu haben. Aber es gab nicht genug frisches Uran, um eine neue Beladung des Reaktors durchzuführen und zusätzliches Plutonium zu erzeugen. Es war jedenfalls erforderlich, alle Aluminiumröhren zu ersetzen. Die neuen Röhren würden in einer der Flugzeugfabriken eine starke, vor Korrosion schützende Oberfläche erhalten. 

Verluste von Menschenleben oder Plutonium

Die zweite Möglichkeit war höchst gefährlich für die Beteiligten. Sie könnten entweder all die Uranzylinder von oben mit speziellen Hilfsgeräten aus den Röhren herausholen oder sie zusammen mit den Röhren in den zentralen Arbeitssaal des Reaktors herausheben. Danach wäre es erforderlich geworden, die intakten Blöcke mit der Hand für den weiteren Gebrauch auszusortieren. Die Graphitummantelung könnte von Hand abgebaut, getrocknet und wieder genutzt werden. Sobald die neuen Aluminiumröhren mit einer Antikorrosionsschicht geliefert würden, wäre es möglich, den Reaktor mit den bereits gebrauchten Uranzylindern wieder zu beladen und auf Nennleistung zu bringen. Welch ein Wahnsinn es ist, von Hand einen monatelang gelaufenen Reaktor zu entladen und die einzelnen Brennstoffblöcke zu inspizieren, wird von den Autoren fast unter kühlt beschrieben. Nach fünf Monaten im Reaktor waren die Uranzylinder hochradioaktiv – es handelte sich um Millionen Curie. Eine erhebliche Ansammlung von Spaltprodukten machte die Uranzylinder extrem heiß – die Temperaturen überstiegen 100 Grad Celsius – und es gab Gammastrahlung von verschiedenen Isotopen, einschließlich Cäsium, Jod und Barium. A.G. Kruglov, der damals in Cheliabinsk-40 arbeitete, gestand zu, dass „es unmöglich war, die Zylinder herauszubekommen, ohne dass die Menschen, die das täten, verstrahlt worden wären“. Kurchatov verstand das sicher auch gut. Sie würden eine Entscheidung treffen müssen: „sollten sie die Leute schützen oder die Uranbeladung retten und die Verluste in der Plutoniumproduktion gering halten? (…) 

Es war der zweite Weg, der durch die politischen Führer und auch durch die wissenschaftlichen Leiter gewählt wurde.“ In anderen Worten: Es war eine Entscheidung, die insbesondere von Berija, Vannikov, seinem Stellvertreter Zavenyagin und Kurchatov selbst getroffen wurde.

Ein Fehler im Kühlsystem führte am 29. September 1957 zur einer weiteren bis 1995 geheim gehaltenen Atomkatastrophe in der Sowjetunion. Der GAU von Kyshtym hatte die Ausmaße des Super-GAU in Tschernobyl: Die Menschen der verseuchten Region wurden umgesiedelt, der Boden umgepflügt, das Vieh getötet und in Massengräbern verscharrt. Der Unfall konnte von den sowjetischen Behörden vertuscht werden, da die radioaktive Strahlung innerhalb der Sowjetunion verblieb.

Medvedev berichtet, dass Vannikov, Zavenyagin und Kurchatov die Arbeit beaufsichtigten und fast ständig anwesend waren. Berija erhielt regelmäßig Berichte und übte Druck auf das Ministerium für Luftfahrtindustrie aus, um sicherzustellen, dass die neuen Aluminiumröhren planmäßig geliefert wurden. Es brauchte 39 Tage, die 39 000 Uranzylinder – insgesamt 150 Tonnen Uran – aus dem Reaktor herauszuholen. Jeder Block musste individuell begutachtet werden. Yefim Slavsky, der Chefingenieur war und danach für viele Jahre im Dienst der Sowjet-Kernindustrie stand, bestätigte, dass es tatsächlich zu dieser skurrilen Operation kam. In seinen Memoiren, veröffentlicht 1997, etliche Jahre nach seinem Tod, schrieb er: 

„Es wurde entschieden, die Uranbeladung zu sichern (und die Produktion von Plutonium) zu einem sehr hohen Preis – der unvermeidlichen erheblichen Bestrahlung des beteiligten Personals. Von diesem Moment an nahm die gesamte männliche Belegschaft der Anlage, einschließlich tausender Gefangener, teil an der Operation, die Röhren und die teilweise beschädigten Zylinder herauszuholen; insgesamt 39 000 Uranzylinder wurden geborgen und mit der Hand bearbeitet.“ 

Tödlicher Rettungsversuch

Kurchatov nahm persönlich an den Arbeiten teil. Er war in dieser Zeit der Einzige, der aufgrund seiner Erfahrungen bei Arbeiten am Forschungsreaktor im Laboratorium Nr. 2 in Moskau wusste, wie man beschädigte Blöcke erkennen konnte. Slavsky fuhr fort: 

„Worte konnten nicht die Kraft seines persönlichen Beispiels ersetzen. Kurchatov war der erste, der in die nukleare Hölle hineinging, in den zentralen Saal des zerstörten Reaktors, voll von radioaktiven Gasen. Er überwachte die Freilegung der beschädigten Kanäle und untersuchte persönlich die beschädigten Uranzylinder, Stück für Stück. Niemand dachte über die Gefahren nach – wir wussten natürlich gar nichts. Igor Vasilevich (Kurchatov) wusste jedoch Bescheid, aber er lehnte es ab, vor der schrecklichen Gewalt des Atoms zurückzuweichen. (…) Für ihn ging die Beseitigung des Fehlers tödlich aus. Er zahlte einen schrecklichen Preis für unsere Atombombe. (…) Es war ein Glück, dass er die Zylinder nicht selbst bis zu Ende aussortierte; wenn er sich nur etwas länger im Saal aufgehalten hätte, hätten wir ihn dann und dort verloren.“ 

Verstrahlte Helfer

Medvedev meint, dass es in Slavskys Bericht unklar bleibt, wie lange Kurchatov tatsächlich im zentralen Saal des Reaktors geblieben war. Die Arbeit des Sortierens der hochradioaktiven Uranblöcke ging rund um die Uhr in Sechs-Stunden-Schichten. Es gibt kein verfügbares Verzeichnis von Dosimeterdaten aus den verschiedenen Bereichen des zentralen Saals oberhalb des Reaktors, möglicherweise deshalb, weil die Dosimeter oft nicht funktionierten. Kurchatov arbeitete wahrscheinlich nicht mehr als zwei oder drei Schichten, weil die Strahlengefahr so groß war. Aber – wie Slavsky schrieb – schon das ging tödlich aus. Kurchatov litt an mittelschwerer Strahlenkrankheit, die nicht automatisch zu Krebs führte und auch keine akute Strahlenkrankheit war, die aber den ganzen Organismus in Mitleidenschaft zog und ein vorzeitiges Altern bewirkte. In den ersten Wochen nach dieser Art subletaler Dosis wurden das Immunsystem und die Funktion der Keimdrüsen zerstört. 

Laut Greenpeace soll in den verbotenen und verseuchten Städten Russlands nun weiterer Atommüll gelagert werden. Dabei kommen in der Gegend um Chelyabinsk-40 noch heute verhäuft Missbildungen und Strahlen-krankheiten vor.

Es ist schwer zu sagen, wie lange Kurchatov nach seiner draufgängerischen Aktion krank war. Kurchatovs Biographen diskutieren diese Ereignisse Anfang 1949 nicht. Die Unfälle in dem industriellen Reaktor werden höchst verschwommen erwähnt: „Nicht immer ging alles glatt, wie das häufiger der Fall ist bei etwas Neuem.“ Zweifellos waren es die Strahlenexpositionen bei mindestens einigen Gelegenheiten, die sein Leben drastisch verkürzten. In den 1950er Jahren wurde Kurchatov schnell schwächer, war oft krank und starb 1960 im Alter von 57 Jahren.

Medvedev berichtet, dass General Avrami Zavenyagin aus dem sowjetischen Innenministerium, Berijas Stellvertreter, ebenfalls bestrahlt wurde, während er die Arbeiten der Häftlinge überwachte und dass auch er irreparable Gesundheitsschäden erlitt. Er starb 1958 im Alter von 55 Jahren. 

Professor Boris Nikitin, Leiter der radiochemischen Fabrik (Mayak), der ebenfalls an der Identifikation der beschädigten Zylinder beteiligt war, litt noch schwerer. Die beschädigten Zylinder wurden direkt zu ihm in seinen Sektor der Anlage gebracht. Er wurde Opfer einer akuteren Form der Strahlenkrankheit, die dann chronisch wurde. Er starb daran 1952 im Alter von 46 Jahren. Es gibt weitere bekannte Fälle von frühem Tod in Verbindung mit Strahlenexpositionen unter Wissenschaftlern und Ingenieuren, die an diesem Unfall beteiligt waren, obwohl es genauer wäre, zu sagen, „beteiligt an der Rettung der Uranbeladung“. 

Ahnungslose Zwangsarbeiter

Und was ist mit den Tausenden von Gefangenen, die für fünf Wochen ununterbrochener Arbeit in Schichten 39 000 Uranzylinder entluden und sortierten, um 150 Tonnen Uran zu retten – wie, wann und wo wurden sie krank und starben? Nicht einer von ihnen schien zu wissen, worum es ging. Das waren aber die Menschen, die die entscheidende physische Arbeit leisteten, die die ganze Operation erst möglich machten. 

Plutonium um jeden Preis

Nach einer Reparaturpause von über zwei Monaten ließ man die Plutoniumerzeugung wieder anlaufen. Im Mai 1949 begann die radiochemische Fabrik Mayak damit, das Plutonium aus den abgebrannten Uranzylindern zu extrahieren. Eigentlich hätte man die Zylinder noch mindestens drei Monate in einem Abklingbecken lagern müssen, aber die Zeit drängte. Man nahm in Kauf, dass die Radiochemiker bei ihren Arbeiten gefährlichen Strahlendosen ausgesetzt wurden. Die führende Strahlenmedizinerin in der UdSSR, Professor Angelina Guskova, war damals Ärztin in Mayak. Sie berichtete 50 Jahre später: „Dort arbeiteten überwiegend junge Frauen. Das war die Gruppe mit dem höchsten Risiko, unter ihnen gab es 120 Fälle von Strahlenkrankheit, sie nannten sie ‚Plutonium-Pneumosklerose.“ 

Im Juni 1949 hatte man 10 Kilogramm Plutonium zur Verfügung und am 29. August 1949 wurde die Bombe in der Nähe von Semipalatinsk in Kasachstan gezündet. 

Das verschärfte Arbeitslager bei Chelyabinsk-40, bekannt als „ITL Bau 859“, wurde nach einem Befehl des Innenministeriums vom 31. Januar 1949 reorganisiert. Es bekam die neue Bezeichnung „ITL Bau 247“. Tsarevsky blieb der Lagerleiter. Im Verlauf des Jahres 1949 verringerte sich die Zahl der Häftlinge um 3 000. Medvedev bleibt vorsichtig in seinen Aussagen, es könne verschiedene Gründe für diese Verringerung der Lagerpopulation gegeben haben. Für viele Beteiligte hatten jedoch nicht nur die Bauarbeiten nach ihrem Einsatz in Chelyabinsk-40 ein Ende.

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