raum&zeit Ausgabe 130

Juli/August 2004

Schöpfung im Fokus
Technik entdeckt Geheimnisse der Natur

Baustein der Physik zerbröckelt
Beschleunigung funktioniert anders

Sinnlose Manipulation
Gentechnik macht nicht satt

Tiergesundheitszentrum
Heilende Architektur

Geistiges Heilen
Therapie aus der Ferne

Editorial: Gedanken über der Käseglocke

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum. Mit diesen Worten reanimierte vor 200 Jahren Goethes Mephisto den frigiden Kabinettwissenschaftler Faust. Heute stören dreiste Erfinder den akademischen Dornröschenschlaf des theoretisierenden Lehrkörpers.

Gebetsmühlenartig referiert die moderne Wissenschaft Sätze, deren Säulen so tönern sind wie der Krug, der beim hundertsten Male bricht. Graue Theorien sind jedoch nicht die Ursache, sondern die Folge eines ethischen Mankos unserer Gesellschaft, das weitaus fundamentaler ist als jede wissenschaftliche Erkenntnis.

Es geht um isoliertes Denken. Isoliertes Denken basiert auf Egoismus – ein etabliertes Verhaltensmuster profitorientierter Zeitgenossen.

Genfood-Entwickler erwarten von ihren Manipulationen des Erbguts, dass sie sich auf die manipulierte Pflanze beschränken. Verheerende Auswirkungen auf Sperma, Atmung und Darm überlebender Teilnehmer der Nahrungskette sind für sie zwar eine Überraschung, für die Lobby jedoch nicht Grund genug, das profitable Geschäft mit den Einwegsamen zu unterlassen.

Die Transplantationsmedizin erwartet von einem Affen- oder Schweineherzen, dass es im Organismus des Menschen lediglich das Blut pumpt. Langfristige Auswirkungen auf das Hormon- und Immunsystem des Menschen sowie die Entstehung artübergreifender Krankheiten sind Risiken, die den Organmarkt nicht erschüttern.

Die Mobilfunkindustrie erwartet von ihren Geräten, dass sie lediglich Nachrichten übertragen. Das erhöhte Leukämie- und Krebsrisiko als Folge permanenter Mikrowellenbestrahlung wird ausdauernd dementiert.

Hungertod ist keine Folge geringer landwirtschaftlicher Produktivität, sondern die beschämende Konsequenz isolierten Denkens. Menschen sterben an Unterernährung, während gleichzeitig Lebensmittel tonnenweise vernichtet werden, um die Preisstabilität nicht zu gefährden.

Wir leben nicht unter einer Käseglocke. Es gibt keine isolierten Systeme. Diese existieren nur in der akademischen beziehungsweise politischen Theorie. Es gibt keine lokal begrenzten Genkulturen. Es gibt keine lokal begrenzte Strahlung. Es gibt keine lokalen Kriege.

Es ist an der Zeit umzudenken. Der Schillerpreisträger Jakob Bosshart sagte einmal: „Wo der Einzelne nur an sich denkt, wird die Gesamtheit nimmer vorwärts kommen.“ Nicht Egoismus und Separatismus sind Privilegien der menschlichen Gattung, sondern Wissensdrang, Kommunikation und Offenheit.

In diesem Sinne
Herzlichst Ihr

Hartmut Müller

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