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Die hohe Zeit der Märchen

raum&zeit-Kolumne von Manfred Jelinski

Das haben sich sicher viele gewünscht: leben wie im Märchen. Und endlich haben wir es erreicht. Auf der Erde ist die Märchenzeit angebrochen. Wie, das haben Sie noch nicht bemerkt?
Ein bisschen mehr aufpassen, würde ich vorschlagen.
Nehmen Sie doch nur die CO2-Steuer. Nur im Märchen würde durch eine Steuer die Klimaveränderung abgewendet werden. In der Realwelt würde man reale Vorschläge machen, z. B. mit der Zerstörung der Urwälder aufzuhören und im Gegenteil aufforsten, wo es nur geht. Aber diesen Märchenwald hätte man vor 50 Jahren anlegen sollen. Glaubt irgendjemand wirklich, dass das Verbot von deutschen Ölheizungen die Welt rettet?
Ein anderes, sehr schönes Märchen ist, wenn man wie Donald Trump durch Beschimpfung farbiger Bürger den Rassismus überwinden will. Das wäre doch eine richtig tolle Story: jemandem einen Knüppel über den Kopf zu schlagen, weil man mit ihm befreundet sein möchte.
Auf Facebook ist man schon schlauer: Es gibt ein neues Märchen-Tool, die Face-App. Wenigstens auf Tinder wird das bestimmt helfen.
Die wichtigste Eigenschaft von Märchen ist, dass sich am Ende alles zum Guten wendet. Damit haben sie Jahrtausende überdauert, was auch der Grund sein mag, dass die heutigen Spitzenpolitiker auf dieser Erde das Märchen ganz neu entdecken.
Boris Johnsons heilige Geschichte des Brexit zum Wiederaufstieg des britischen Weltreiches braucht aber noch ein wenig mehr als einen modernen Francis Drake und eine ordentliche Anzahl von Kolonien.
Die Wiederbesetzung von Hongkong wäre ein schönes Sequel für Märchen-Streaming-Plattformen.
An einige verträumte Vorstellungen haben wir uns schon lange gewöhnt. Mehrheitlich glauben mindestens die meisten deutschen Politiker, dass das Ersetzen von Worten durch andere ein Problem hintergründig beseitigt. Wenn man zum Beispiel „Schwarzer“ sagt oder sogar „stark pigmentiert“ statt „Neger“, „prekär beschäftigt“ statt „arbeitslos“ oder auch nur „visuell herausgefordert“ für „blind“.
Und, sexuelle Übergriffe durch Sprachregelung und verbale Akrobatik zu verhindern, ist doch ein wunderbares Traumland, das mit aller Härte gepflegt wird. Wie auch der Glaube, dass das Aufkleben von „Tierwohl“-Etiketten irgendeine wirkliche Auswirkung auf das Schicksal der Fleischlieferanten hat.
Ich beobachte das alles mit Spannung, besonders die hartnäckigen Märchen, die in der Vergangenheit schon mehrfach zu ganz außergewöhnlichen Ergebnissen geführt haben. Zum Beispiel, dass man für die Sicherheit der Bürger und die Prosperität eines Landes einen Krieg beginnen muss. Weltkrieg oder Besetzung nur eines Landes oder auch nur Handelskrieg ist letztlich egal. Oder dass durch das Einsperren von Kritikern sich die Zuwendung für eine Regierung steigert.
Aber bleiben wir bei den kleinen Märchen. Deutschland, die Heimat der größten Märchensammler der Welt, ist auch hier Weltmeister. Zum Beispiel, dass die Erhebung einer Maut mit Leichtigkeit alle juristischen Hürden überwindet und die Staatskasse füllt, statt sie zu leeren. Oder: Wir bekommen endlich gute Kindergärten, wenn das „Gute-KITA-Gesetz“ von allen Bundesländern unterschrieben ist.
Warum sagen sie nicht gleich, dass Zitronenfalter Zitronen falten und Pfauenaugen sehen können? Das wäre mal Klartext, auch für die Kinder.
Einen Unterschied zu den Märchen der alten Zeit allerdings gibt es in der modernen Sagenwelt: Es heißt nicht mehr „es war einmal“ sondern „es wird einmal“.
Aber im Grunde sind Märchen doch furchtbar grausam. Denn irgendwo im Märchenwald liegt das Häuschen der bösen Hexe. Hänsel und Gretel sind ihr entkommen, aber auch nur, weil sie sich ihrer Situation bewusst wurden und ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Im weltweiten Märchenwald sehe ich da keine Parallele. Märchen sind einfach zu schön und zu bequem, um aufzuwachen. Bis man selbst im Backofen steckt und nicht die böse Hexe. Und der Jäger hat keine Chance, Rotkäppchens Problem mit dem Wolf zu entdecken, weil er in der Wunderwelt seines Smartphones gefangen ist.
Aber das ist schon wieder ein anderes Märchen.

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