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Müssen sich Flüchtlinge integrieren?

raum&zeit-Kolumne von Manfred Jelinski

Irgendwie verstehe ich die ganze Diskussion nicht, die landauf, landab die Gemüter erhitzt. Müssen sich Flüchtlinge in dem Land ihrer Zuflucht wirklich integrieren? Wenn Sie „Ja, natürlich! Das schulden sie doch der Willkommens-Gesellschaft!“, sagen, kann ich ja mal weiter fragen.
Nehmen wir an, Sie müssten nach Vietnam oder in den Iran oder auch nur in die arabischen Emirate flüchten, würden Sie sich dort integrieren? Von einem Tag zum anderen den Gebetsteppich ausrollen, keine Grillwürstchen mehr essen und auf das Bier zur Geselligkeit auch verzichten?
Wenn ich so in mich hineinhorche: ich wohl eher nicht. Ich würde schon versuchen, in meine Heimat zurückzukehren, wenn es sich dort irgendwie leben lässt. Ich würde mir ein Smartphone beschaffen und immer mit den dort Verbliebenen in Kontakt stehen. Und ich würde mich umschauen, wo es noch mehr meiner Art von Sozialisation gibt, um mich ein ganz klein wenig zu Hause zu fühlen. Anpassen, schwarz anmalen als Namibier? Das hätten die deutschen Kolonisten schon tun können und haben es auch nicht gemacht, obwohl sie erheblich in der Minderzahl waren.
In vielen Ländern gibt es deutsche Kommunen: in Chile, Argentinien, Namibia und Südafrika, Mikronesien, USA und wer weiß, wo sonst noch. Hier wird nach vielen Jahrzehnten noch deutsch gesprochen und Sauerkraut gekocht.
Wir müssen auch nicht nach Chinatown oder Little Italy reisen, um das Phänomen des eigenen Kontextes besser zu verstehen. Die „Zuwanderung“ der Vertriebenen in den letzten Kriegsmonaten war das Tüpfelchen auf dem „i“ der nationalen Katastrophe. Und haben sich die Leute, so unwillkommen, wie sie im Westen waren, integriert? Ganz lange nicht. Die wollten eigentlich auch zurück ins Sudetenland, nach Schlesien oder Ostpreußen. Ich weiß das von meiner Oma sehr genau. Wenigstens durfte man Vertriebenenverbände gründen.
Und nun die Flüchtlinge aus dem etwas entfernteren Osten, die, wenn befragt, auch nur in den seltensten Fällen bleiben möchten. Eigentlich wollen sie zurück, wenn man sie nur lassen würde. Aber solange ihr früherer Staat seiner Schutzpflicht nicht nachkommen kann, weil sich auch beständig stärkere äußere Kräfte einmischen, wird es für sie wenig reizvoll sein, in Bombentrichtern ihr Kochgeschirr zu richten.
Solange Großmächte nach Weltbeherrschungsplänen agieren, Strategie vor Menschlichkeit stellen, kann man keinem der beteiligten Politiker abnehmen, sie hätten wirklich humane Dinge im Sinn. Stattdessen mutmaßt man, dass Saddam Hussein nur deshalb entmachtet wurde, um dort Hamburger und Cola verkaufen zu können. Wenn irgendetwas faschistisch ist, dann doch das missionarische Ansinnen, anderen Völkern die eigene Weltsicht überzustülpen. Das ging schon bei den Kreuzzügen schief.
Man kann heute durchaus Begründungen für die Ansicht finden, die Demokratie mit ihrem Angebot an Politiker, sich nach vier Jahren aus der Verantwortung stehlen zu können, wäre auf keinen Fall das Nonplusultra für eine Gesellschaft.
Jedenfalls kann diese so fortschrittliche Industrie-Demokratie ihnen nicht einmal Arbeit anbieten, um die Integration in Selbstständigkeit zu fördern. Sechs bis acht Jahre veranschlagt man, um eine Differenz des technischen und gesellschaftlichen Verständnisses aufzuarbeiten. Sollen es die Flüchtlinge so lange versuchen, um dann, wenn sie eventuell wieder zurückkehren können, sich dort auch wieder integrieren zu müssen? Sollte man sich nicht lieber darauf konzentrieren, ihnen Lebensräume anzubieten, in denen sie sich nach Maßgabe der eigenen Sozialisation organisieren können? Wo auch immer.
Wenn ich all diese von oben herab lancierten Integrationsbemühungen betrachte, beschleicht mich manchmal der Verdacht, die wahren Gründe sind ganz andere und die netten Menschen hier, die sich dafür einsetzen, werden einfach nur wieder instrumentalisiert. Nun haben wir den Facharbeitermangel wie gesagt abgehakt, aber inzwischen wird schon argumentiert, dass mit den „Zuwanderern“, (ein Wort, das deren Freiwilligkeit beschreiben soll) auch unsere Geburtenrate wieder steigt. Und Schulen nicht mehr geschlossen werden müssen. Und es wieder fleißige Lehrlinge gibt. Und neue inländische Konsumenten.
Ist das nicht perfide? Aber Selbstkritik am eigenen System, beispielsweise, warum denn die Geburtenrate ohne fremde Hilfe so sehr sinken würde, grenzt ja schon an Nestbeschmutzung. Und sich zu fragen, wer wirklich Urheber der ganzen Malaise ist, kann schon wieder sehr dogmatisch ausgelegt werden. Natürlich wird nun kaum ein Deutscher in Nordkorea, Vietnam oder in einem „sicheren“ Maghreb-Staat um Asyl bitten, aber vielleicht sollte man sich einmal einfach nur in die Rolle eines Betroffenen – wenn auch nur gedankenspielerisch – versetzen. Und, ja, man könnte auch überlegen, was passiert, wenn die Briten vor den steigenden Sturmfluten der Klimakatastrophe fliehen müssen. Nach einem Brexit.

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