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Das Gute im Schlechten und die Weisheit des Tigers

Von Christine Kammerer, Neumarkt – raum&zeit Ausgabe 200/2016

Stell Dir vor, Du begegnest da draußen auf der Straße einem Tiger. Gehst Du freundlich auf die große Katze zu und versuchst, sie zu streicheln? Oder nimmst Du spornstreichs die Beine in die Hand und suchst das Weite?
Es ist zwar rein statistisch betrachtet extrem unwahrscheinlich, mitunter kommt es aber doch vor, dass einer vom Tiger gefressen wird. Und plötzlich hat jeder Angst, vom Tiger gefressen zu werden.

Statistische Mittelwerte und die Normalität sind einfach nicht besonders interessant für uns. Das wissen auch die Medien. Wenn also das höchst Unwahrscheinliche eintritt, stürzen sich alle wie die Aasgeier auf den Tiger und bauen den Vorfall so lange aus, bis uns das eigentümliche Gefühl beschleicht, es sei so ziemlich das Normalste auf der Welt, dass uns jederzeit ein Tiger über den Weg laufen könnte.
Noch schlimmer: Die Medien schweigen den Tiger tot. Wenn‘s dann doch raus kommt (was eigentlich fast immer irgendwann passiert), nimmt das Unausgesprochene unweigerlich monströse Dimensionen an. Wir verlieren das Vertrauen. Wir sehen in allem und jedem nur noch das Schlechte und beginnen zu glauben, dass es tatsächlich sehr realistisch ist, von einem Tiger gefressen zu werden.

Die meisten Medien haben sich sowieso schon lange von der Realität verabschiedet und sich praktisch ausschließlich dem Katastrophen-Journalismus verschrieben. Sie überbieten sich darin, unsere gute und schöne Welt in düsterem Licht erscheinen zu lassen. Und wir machen mit – frei nach dem Motto: „Ich kommentiere, also bin ich!“ Wir schütten Öl ins Feuer, motzen und verbreiten Halbwahrheiten. Die Kaskade schraubt sich hoch und aus jeder Welle wird ein Tsunami. Verderblich ist des Tigers Zahn, jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.

Aber immerhin – das Meckern tut uns gut. Schimpfen entlastet. Und die Angst vor dem Tiger ist ja durchaus auch berechtigt. Jedenfalls dort, wo Tiger frei herum laufen. Die Angst vor – realen – Gefahren liegt uns in den Genen, ist von der Evolution gewollt. Denn Lebewesen, die ihre Aufmerksamkeit auf Gefahren, mögliche Fehler, negative Konsequenzen lenken, haben ganz einfach größere Chancen, sich anzupassen und zu überleben.
Tiger hin oder her – warum bleibt eigentlich unter dem Strich das ungewisse Gefühl, dass alles immer schlimmer wird? Selbst dann, wenn es eigentlich besser wird? Warum lassen manchmal sogar die Lösungen, die schrittweisen Erfolge ein Problem noch viel größer erscheinen, als es wirklich ist? Weil sich unser Blick nicht auf den gelösten, sondern auf den noch ungelösten Teil des Problems richtet.

Und warum sehen wir lieber das Negative und nicht das Positive? Weil es uns so gut geht.
Was uns Kopfzerbrechen bereitet, ist vor allem der mögliche Verlust (und wir haben tatsächlich viel zu verlieren). Deswegen scheuen wir das Risiko, meiden alles (vermeintlich) Schlechte und dulden keine „Fehler“ in unserem so unvollkommenen System. Und deswegen ist es auch sehr viel wahrscheinlicher, von den eigenen Sorgen aufgefressen zu werden, als von dem Tiger da draußen.
„Oh Bär“, sagte der Tiger, „ist das Leben nicht unheimlich schön, sag!“
„Ja“, sagte der kleine Bär, „ganz unheimlich und schön.“
Und da hatten sie verdammt ziemlich recht.

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