Freiheit von der Geldherrschaft

Occupy Wall Street verdient Unterstützung

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Der Arabische Frühling ist kaum noch mehr als ein Schauder, wohlig oder nicht, auf dem Rücken der Mächtigen der Welt, da erreicht Mitte September ein Ableger des Frühlings die westlichen Demokratien. Wie jede Bewegung hat auch Occupy Wall Street ihre Schwächen, dennoch kann ...
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Freiheit von der Geldherrschaft
Von Norbert Busche, Wolfratshausen

Der Arabische Frühling ist kaum noch mehr als ein Schauder, wohlig oder nicht, auf dem Rücken der Mächtigen der Welt, da erreicht Mitte September ein Ableger des Frühlings die westlichen Demokratien. Wie jede Bewegung hat auch Occupy Wall Street ihre Schwächen, dennoch kann die Welt von ihr nur profitieren.

Friedlich in die Freiheit

Was den einen ein Frühling, ist den anderen ein Gespenst, das an den Börsen der Welt um geht. Es nennt sich Occupy und okkupiert immer mehr, setzt Politiker und Börsianer unter Druck, wird zugleich selbst unter Druck gesetzt; es gibt nichts, was es nicht provoziert hätte, Kopfschütteln, Tränengasattacken, Verhaftungen, falschen und echten Applaus, ebenso wie Nachahmer. Vor allem Nachahmer. Tausende haben sich in Madrid, London, Frankfurt und Tokio angeschlossen, überwiegend friedlich, nur in Rom eskalierte der Protest in Gewalt. Friedlich für Freiheit. Begonnen hat alles am 13. Juli dieses Jahres mit Adbusters Aufruf, am 17. September die Wall Street friedlich zu besetzen. Adbusters versteht sich als Sammelbewegung konsumkritischer Gruppen, die vor allem die Omnipräsenz von Werbung kritisiert und die mit dem Aufruf ebenso ihr bestimmungsgemäßes Feld verließ, wie das ominöse Hacker-Kollektiv Anonymous, das einen Monat darauf einen gleichlautenden Aufruf veröffentlicht. Seitdem halten Demonstranten den Zuccotti Park, eine kleine Oase im Finanzdistrikt von Manhattan, besetzt, haben ihn in Liberty Plaza umbenannt, obwohl New Tahrir Plaza passender wäre, denn die Nähe zu dem Platz in Kairo, Zentrum der regimekritischen Bewegung gegen Mubarak, ist nicht zu übersehen. Freiheit fordern beide Gruppen, die eine vom Diktator, die andere von der Plutokratie.

Wollen die Kritiker von der eigentlichen Botschaft ablenken

Es gibt Leute, die halten Occupy Wall Street (OWS) wie auch jede andere Bewegung für das künstliche Produkt der Elite: Diese kreiere ein Problem, um dann auf die bereits erwartete Reaktion der Bevölkerung die Lösung anzubieten, die der Elite von Anfang an vorschwebte. Das ist komplizierter gedacht als notwendig und grundfalsch, denn es ist ja nicht so, dass Wall-Street-Broker mithilfe von Main-Street-Protestlern den Turbokapitalismus abschaffen möchten. Auch Präsident Obama, einst als Heilsbringer gefeiert, hat bislang nicht allzu viel infrage gestellt, geschweige denn, dass er bislang eine glückliche Hand darin gezeigt hätte, Reaktionen der Bevölkerung zu erahnen. Andere Aussagen sind ebenso wenig aufschlussreich, sie beklagen mal die angenommene Faulheit der Demonstranten, mal deren Ungewaschenheit, und Michael Bloomberg, Bürgermeister der Stadt, auf dessen Website sich kein Kommentar zu den Protesten findet, verfällt auf den durchschaubaren und später zurückgezogenen Trick, den Platz zwecks Reinigung räumen lassen zu wollen. Danach stünde er der Öffentlichkeit zwar wieder offen, nicht jedoch Zelten und Schlafsäcken, der Behausung der Besetzer. Mit der Versammlungsfreiheit kann es schnell vorbei sein. Zum Beispiel, wenn Mülleimer überquellen. Andere Kritiker bemängeln das Fehlen einer Führung der Bewegung, als würden Ansprüche berechtigter, würden diese von einem, womöglich charismatischen, Sprecher vorgetragen. Allenfalls hätte sich manch Forderungskatalog nicht wie ein Programm der Lach- und Schießgesellschaft gelesen. Offene Grenzen hier, ein Mindestlohn von 20 Dollar dort – das ist wenig vertrauenerweckend, und auch das verlangte und durchaus wünschenswerte Ende der Ölabhängigkeit hat zunächst wenig mit Wall Street zu tun. Dennoch ist Häme fehl am Platz, begründet diese doch eine Scheindiskussion, die von der Legitimität und dem eigentlichen sachlichen Inhalt der Proteste ablenken soll: Solange kein schlüssiges Maßnahmenpaket existiert, muss demnach die Bewegung auch nicht ernst genommen werden. Das würde jedoch voraussetzen, dass Durchschnittsbürger verstehen, was wohl selbst Broker nicht durchschauen: Das Geflecht aus Wirtschaft und Politik, die unglückselige Melange aus Derivaten, Subprime-Krediten, Zwangsräumungen und millionenschwerer Abfindungen. So kann es nur bei Allgemeinplätzen bleiben, die auf Papptafeln geschrieben und vor Kameras gehalten die persönliche Ohnmacht ausdrücken. Und schließlich: Welchen Teil von „Stop the Greed“, „We are the 99 Percent“ oder „People not Profit“ haben die Kritiker nicht verstanden?

Was will Occupy

Es braucht keinen überragenden Scharfsinn, auch keinen elaborierten Forderungskatalog, um zu erkennen, woran sich die Empörung der Protestierenden entzündet: Etwa an der historisch einmaligen Schieflage zwischen Arm und Reich. Oder daran, dass das Primat der Politik – polis im Sinne von Bürgergemeinde – aufgegeben wird zugunsten eines Staates, der für Zocker Schmiere steht, wie es Norbert Blüm jüngst formulierte. Einem Staat, der mithilfe von Steuergeldern Banken Rendite garantiert, die der Markt, also der Steuerzahler, nicht aufbringen kann. Einer Gemeinschaft, die so verschuldet zu Konditionen Kredite aufnehmen muss, die Ratingagenturen und die rausgehauenen Banken festlegen. Empörung darüber, dass Globalisierung so verstanden wird, dass global Trinkwasser und Ackerflächen zu Spekulationsobjekten werden (siehe „Hunger nach Profit“, raum&zeit 164), die bei dem einen zum Maserati als Viertwagen, bei anderen zuHunger führen. Die Finanzkrise führte ja nicht „nur“ dazu, dass allein in den USA sechs Millionen Zwangsräumungen in einem Jahr vollstreckt wurden. Sie hatte auch zur Folge, dass die Vereinten Nationen für ihr Welthungerprogramm nicht einmal die Hälfte der veranschlagten Gelder erhielten. Während Kurse fielen, kletterten Abfindungen für bestenfalls glücklos, schlimmstenfalls verbrecherisch agierende Bankmanager in ungeahnte Höhen. Insgesamt 3,6 Milliarden Dollar an Boni gab es allein für das Management des Bankhauses Merryll Lynch – ein Drittel des vom Steuerzahler aufgebrachten Rettungspakets. Bankangestellte am unteren Ende der Nahrungskette werden gefeuert.

Raffgier und Lobbyismus in Deutschland

Im Vergleich dazu hält sich die Selbstbedienung der Bosse in Deutschland in Grenzen. Aber auch hier muss die Realwirtschaft erwirtschaften, was einige wenige der Finanzwirtschaft an sich und seinesgleichen im In- und Ausland verteilen, vermachen und schließlich verprassen. Eine Realwirtschaft, die auch deshalb verstärkt wachsen muss, aber auf dem Binnenmarkt nicht schneller wachsen kann, denn wo soll die zusätzliche Nachfrage nach Autos, Küchenwaagen oder Kühlschränken herkommen? Deutschlands zuletzt moderates und inzwischen kaum noch vorhandenes Wirtschaftswachstum ist dem Export geschuldet, Märkten die noch nicht gesättigt sind. Man sollte annehmen, der Bundesregierung gelingt es in der Zeit von Wachstum, ein paar Schulden zu tilgen. Stattdessen steigen diese weiter und legen so die Saat für die nächste Finanzkrise. Auch in Deutschland schwindet das Primat der Politik unter dem Einfluss von Lobbyisten. Die Gesetzgebung, Brot-und-Butter des Parlaments, wird an Lobbyorganisationen und Anwaltskanzleien ausgelagert, die sonst die Finanzwelt vor staatlichem Einfluss schützen. Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz etwa an die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer. Peter Struck (SPD) erklärte dazu vor dem Parlament: „Ich weiß, dass es eine Zumutung für das ganze Haus ist, ein solches Gesetz in nur einer Woche durchzuziehen. Aber wir hatten überhaupt keine andere Chance im Kampf gegen die Uhr, um schneller zu sein und keine Gefährdung heraufkommen zu lassen. Für diesen Vertrauensvorschuss des Parlaments erwarte ich allerdings von der Bundesregierung, von der Exekutive, dass der Bundestag eng eingebunden wird und dass ihm alle erdenklichen Kontrollmöglichkeiten zugestanden werden. (...) Wir brauchen nicht nur neue Regeln, sondern wir brauchen eine moralische Erneuerung. (...) Die Menschen müssen wieder die Gewissheit haben, dass sich Leistung für alle lohnt und dass Eigentum verpflichtet.“ 

Der Bogen ist überspannt

Genau das ist nicht eingetreten. Es gibt weder eine moralische Erneuerung, noch die Gewissheit, dass sich Leistung für alle lohnt. Die viel zitierte Schere zwischen arm und reich öffnet sich weiter, Vorstandsgehälter explodieren, Boni-Zahlungen erreichen nahezu Vorkrisen-Niveau, in den USA liegen sie zum Teil bereits darüber. Andere Einkommen decken kaum mehr als die Miete. Goldman-Sachs-Analytiker Josh Koplewicz feierte Ende 2010 eine Wodka-seelige Party im Good Units Nachtclub in Manhattan, bei dem Grammy-Preisträgerin Lil‘ Kim im Katzenkostüm die musikalische Untermalung für 1000 Gäste bot, deutlich mehr als in den vorherigen Jahren.

Wenige Wochen zuvor hatte der damalige Chef der Asien-Abteilung der Bank of America, Antony Hung, seinen fünfzigsten Geburtstag zwischen tanzenden Frauen mit Satin-Hasenohren und Federboas gefeiert. Allein seine Bank hatte im Jahr zuvor 20 Milliarden Dollar an direkte Hilfen und weitere 118 Milliarden an staatliche Garantien erhalten. Nun also verpflichtet Eigentum: Wodka für die Freunde, Bunny-Kostüme für die Hostessen. Wenn aber OWS-Aktivisten als Zombies verkleidet aufmarschieren, werden sie infantil genannt, als wäre es nicht schon erstaunlich genug, dass sie ihren Humor behalten, wenn sie vom College finanziell verschuldet in die Arbeitslosigkeit wechseln. Es ist dabei nicht Sozialneid der zentrale Antrieb der Proteste, sondern die wachsende Konzentration an Macht, die sich wenige Eliten teilen, gepaart mit der daraus zwangsläufig entstehenden eigenen Ohnmacht, ebenso wie die Einsicht, dass auch die Politik absolut nichts aus der vergangenen Krise gelernt hat. 

Im Schutz der weißen Maske

Zwei Kritikpunkte muss sich die Bewegung trotzdem gefallen lassen. Der kleinere ist, dass Anhänger von Anonymous, einem Mit-Initiator der Proteste, sich grundsätzlich hinter Guy-Fawkes-Masken verstecken. Fawkes hatte einst vor, mit einem Anschlag am Tag der Parlamentseröffnung König Jakob I. samt Familie, alle Parlamentsmitglieder, die Bischöfe des Landes und große Teile des Hochadels zu töten. Auch wenn Briten witzeln, dass Fawkes als bislang einziger mit ehrlichen Absichten in das Parlament ging, handelt es sich doch um einen verhinderten Massenmörder, der ein Parlament abschaffen wollte. Dazu passt, wie Anonymous mit den persönlichen Daten eines Polizeibeamten umgeht, der ebenso sinnfrei wie hirnlos eine Gruppe Demonstrantinnen mit Pfefferspray angriff. Für eine Strafverfolgung hätte dessen Name gereicht, der ohnehin auf seinem Namensschild auf der Brust steht. Anonymous veröffentlichte jedoch gleich Anschrift und die Namen weiterer Familienmitglieder des Beamten. Welche Art Anschlag und welche Art von Sippenhaft wollte die Gruppe damit provozieren? Zweifelhafte Masken als Identitätsschutz für sich selbst und völlige Transparenz auch jenseits des Vertretbaren woanders geht nicht zusammen.

Es gibt auch eine Gier der 99 Prozent

Entscheidender ist, dass zwar die Gier der Superreichen, nicht jedoch die Habsucht der Allgemeinheit kritisiert wird: Zwei Autos, eine Fernreise jährlich, Digitalkamera, iPad, iPod, iWasweißich und wehe das Mobiltelefon ist älter als zwei Jahre. Die Gier der oberen ein Prozent ist nicht mehr gesellschaftsfähig; die der 99 Prozent ist es dagegen immer noch. Es ist ja nicht so, dass Wall Street alleine an der Finanzkrise schuld ist. Fast ganz Amerika hat über seine Verhältnisse gelebt und Schulden von einer Kreditkarte auf die nächste geschoben, und viele haben sich einreden lassen, sie könnten ein Haus finanzieren, weil sich gefahrlos auf eine jahrzehntelange Wertsteigerung der Immobilie spekulieren ließe. 

Die wirtschaftsstärksten Industrienationen sind Plätze auf der Erde, in denen schon immer Vorratshaltung betrieben werden musste. Je mehr man besaß, desto größer die Überlebenschance. Heute stellt sich dagegen die Frage, wann wir zu viel haben und damit unsere Überlebenschance verringern, denn jede Form der Wirtschaft bedeutet die Umwandlung von Naturwerten in Geldwerte. Wobei Naturwerte in Entwicklungsländern zerstört und in Industriestaaten zu Geld werden. Diesen Aspekt klammert OWS aus; es geht allein um die gerechtere Verteilung des Zuviels.

Damit wird Occupy nie zu einer globalen Bewegung, der sich auch Inder und Kenianer anschließen werden. Deren Eliten sind keineswegs weniger korrupt, aber es geht den „einfachen“ Bürgern dort um anderes. Um sauberes Wasser etwa, um medizinische Versorgung und andere grundlegende Dinge zum Überleben. Das Anliegen von Occupy ist da ein Luxusproblem jener, für die existenzielle Unsicherheit ein neues, seltsames Gefühl ist.

Dennoch ist es nicht überraschend, dass von den zwei Protestbewegungen, die in Obamas bisher nur dreijährigen Amtszeit entstanden, Tea Party und OWS, nur letztere amerikanischen Boden verließ. Abgesehen von amerikanischen Ultrakonservativen versteht niemand das Gerede um Geburtsurkunden in kurzer oder langer Ausführung oder was so freiheitlich daran sein soll, keine Krankenversicherung zu besitzen. Aber es gibt eine Instabilität der Ungleichheit, die in Krisen verstärkt hervortritt und andere Gesellschaften mitreißt, wenn diese kulturell und ökonomisch so eng verbunden sind wie die Industrienationen.

Trotz eines spanischen Vorläufers ging Occupy von Amerika aus. Warum die USA? Vielleicht zeigen sich hier die respektierten Vereinigten Staaten von Amerika, das Land, dessen Verfassung mit „Wir, das Volk ...“ beginnt, nicht wie der verquaste europäische Gegenentwurf mit einer Auflistung sämtlicher Staats- und Regierungsoberhäupter der Union – Königshäuser sind darunter und nicht vom Volk gewählte Präsidenten. 

Wohl war, aber es gibt auch eine weniger romantische Antwort. Es gibt von China abgesehen, wo demonstrieren gefährlich ist, wohl keine Industrienation, in der der ungezügelte Kapitalismus mehr Einfluss von Lobbyisten und mehr soziale Ungerechtigkeit geschaffen hat, wie es auch kein Land in der westlichen Welt gibt, das auf offiziell neun Prozent Dauerarbeitslose so schlecht eingestellt ist.

In jedem Fall geht die jüngste Freiheitsbewegung, dieses Mal gegen die Geldherrschaft, von Amerikanern aus. Sie setzt ein Signal gegen das scheinbar unantastbare Netzwerk aus gewissenlosen Finanzhaien, korrupten Politikern und schmierigen Lobbyisten. Sie zeugt davon, dass die Bürger genug von Scheindiskussionen und Scheinlösungen haben, die den Filz nur weiter konservieren. Sie erinnert an die Macht der Bürger, an unsere Macht, die wir gerade jetzt nutzen sollten. Neue Demonstrationen gegen die Bankenmacht und für die Demokratie sind geplant. Schließen wir uns ihnen an.

Die Welle breitet sich aus

Der Auftakt für die Occupy Wallstreet Bewegung war der 17. September, an dem 1000 Menschen den Zuccotti Park in New York besetzten. Seitdem protestieren in New York immer wieder Aktivisten mit Versammlungen, Kundgebungen und Märschen gegen die Herrschaft des Geldes. Die Bewegung wird von Künstlern wie Schauspielerin Roseanne Barr oder Filmemacher Michael Moore unterstützt, ebenso von Wissenschaftlern wie dem Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz sowie von Gewerkschaften. 

Am 15. Oktober erfasste die Welle Europa. In deutschen Städten gingen insgesamt ca. 40 000 Menschen auf die Straße, in Wien 1 400, in Zürich 1 000, in Rom 150 000, auch in London mehrere Tausend.

Der Autor

Norbert Busche arbeitete nach einem Studium in Pädagogik und Kommunikation als Buchautor, Dozent und Produzent von Lernmedien. Für den Ehlers Verlag schreibt er seit März 2009.

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