© neom.com

Dystopische Architektur 

„The Line“ – Bandstadt in der Wüste

Dass sich die Architektur von Gebäuden auf die Menschen auswirkt, wird kaum jemand bestreiten (siehe z. B. Artikel „Die Information von Architektur“ im raum&zeit Themenheft „Naturenergien technisch nutzen“). Ob jemand in einer grauen Plattenbausiedlung wohnt, oder umgeben ist von Fachwerk, Türmchen, Erkern und Rundbögen, wird unzweifelhaft das Bewusstsein formen. Etwas Ähnliches gilt sicher auch von der Stadt(teil)architektur. Sind die vier Himmelsrichtungen den Bewohnern zugänglich und kann der Blick unbehindert umherschweifen, so dürfte das ein Gefühl der Freiheit beflügeln und insofern dem Wohlbefinden zuträglich sein. Vor diesem Hintergrund könnte es sich bei dem Mega-City-Projekt „The Line“ im Nordwesten Saudi-Arabiens um ein interessantes Experiment handeln. Diese Smart City soll sich auf eine Länge von 170 Kilometern in Ost-West-Richtung bei nur 200 Metern Breite mit 500 Meter hohen, nach außen verspiegelten Wänden schnurgerade wie eine gigantische Schnittwunde durch die Wüste ziehen. Das Konzept ist in der Städteplanung als Bandstadt bekannt, das als Gegenthese zur kreisrunden Gartenstadt mit einem Zentrum gilt. Die Abmessungen von The Line ergeben eine Fläche von 34 Quadratkilometern, die geplante Einwohnerzahl liegt bei neun Millionen. Zum Vergleich: In München leben etwa 1,5 Millionen Menschen auf einer zehn Mal so großen Fläche. „Eine lineare, rigide Stadt scheint keine Umgebung für Kreativität und Ideenaustausch zu sein“, kommentiert die koreanische Architektin und Youtuberin Dami Lee. Das Megabauwerk ist Teil des umfassenden Wirtschaftsprojekts Neom (raum&zeit berichtete) und soll Schulen, Wohnungen, Parkanlagen, Krankenhäuser, Sportstadion und einen eigenen Yachthafen enthalten. Autonome Drohnen und Roboterdiener sollen den Einwohnern das Leben erleichtern helfen. Motorisierten Individualverkehr soll es nicht mehr geben; alle Wege für die täglichen Besorgungen werden zu Fuß, per Fahrrad, mit Aufzügen oder mit der U-Bahn erledigt. Ein zusätzliches Hochgeschwindigkeitssystem soll die 170 km von einem Ende zum andern ohne Zwischenhalt in 20 Minuten zurücklegen. Außerdem befinden sich im zweigeschossigen Untergrund ein Güter-Transportsystem und eine Service-Ebene mit Infrastruktur und Geschäften. 30 Prozent der Infrastrukturkosten einer herkömmlichen Stadt will man so sparen und zudem 100 Prozent des Stadtenergiebedarfs aus erneuerbaren Quellen decken. Natürlich wird es aufgrund der schlucht-ähnlichen Konstruktion kaum direkte Sonneneinstrahlung geben. Künstliche Intelligenz soll das Verhalten der Bürger in der Stadt beobachten – das Merkmal einer Smart City. Zudem sollen die medizinischen Einrichtungen Gentechnik verwenden, „um den Menschen stärker zu machen“. 200 Milliarden US-Dollar soll The Line kosten. Es wäre das größte Bauwerk der Menschheitsgeschichte. Erleben wir hier eine Blaupause für die Isolierung des Menschen von seiner natürlichen Umwelt? Eine normale Stadt wächst organisch dezentral und richtet sich nach den jeweiligen orographischen (das Höhenprofil betreffend) Gegebenheiten. 

Quelle: www.garten-landschaft.de

zur Startseite