„Es gibt keine sicheren Atomkraftwerke!“

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© Igor Kostin

20 Jahre nach dem GAU von Tschernobyl denkt Bundeskanzlerin Angela Merkel daran, den geplanten Ausstieg aus der Atomenergie wieder rückgängig zu machen. Die deutschen Atomkraftwerke seien die sichersten der Welt, argumentiert sie. Dem widerspricht Holger Strohm, seit über 30 Jahren Ex...
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„Es gibt keine sicheren Atomkraftwerke!“
Ein Interview mit Holger Strohm, Mölln, von Diana Müller, Hamburg – raum&zeit Ausgabe 142/2006

20 Jahre nach dem GAU von Tschernobyl denkt Bundeskanzlerin Angela Merkel daran, den geplanten Ausstieg aus der Atomenergie wieder rückgängig zu machen. Die deutschen Atomkraftwerke seien die sichersten der Welt, argumentiert sie. Dem widerspricht Holger Strohm, seit über 30 Jahren Experte für Reaktorsicherheit. in diesem Interview aufs heftigste: „Die Reaktoren der BRD sind unsicherer als die vom Tschernobyl-Typ.“

Das Interview


Diana Müller: Wirtschaftsminister Michael Glos und die Ministerpräsidenten Günther H. Oettinger, Roland Koch, Christian Wulff und Edmund Stoiber verbreiteten in den Medien, die deutschen Atomkraftwerke seien die sichersten der Welt. Stimmt das?

Holger Strohm: Jedes Land, das Atomkraftwerke (AKWs) baut, behauptet, ihre Reaktoren seien die sichersten der Welt. Faktum ist: Es gibt gar keine deutschen Reaktoren. Sie sind Lizenznachbauten der amerikanischen Firmen General Electric und Westinghouse. In den USA wurden rund 250 schwerwiegende Sicherheitsmängel verschwiegen und manipuliert, um sich Betriebsgenehmigungen zu erschleichen.

Auf diese verfälschten Reaktorsicherheitsunterlagen, als auch auf die amerikanische Sicherheitsphilosophie stützen sich die westliche Welt und ihre Genehmigungsbehörden. Es gibt keine sicheren Atomkraftwerke.

D. M.: Gibt es in Deutschland ein Beispiel für unzureichende Reaktorsicherheit?

H. S.: Weltweit ist der Bau von Siedewasserreaktoren mittlerweile verboten, da sie als zu unsicher gelten. 14 Kilometer von Hamburg entfernt befindet sich der größte und unsicherste Siedewasserreaktor der Welt, das AKW Krümmel, dessen Druckbehälter bereits durch fehlerhafte Fertigung voller Haarrisse war, als er in Betrieb genommen wurde.

Um dieses AKW herum herrscht die höchste Leukämierate bei Kleinkindern weltweit. Die Wissenschaftler, die das AKW dafür verantwortlich machten, wurden kaltgestellt. Die Leukämiekommission, die von der Regierung eingesetzt wurde, um die Ursachen zu ermitteln, trat unter Protest im November 2004 zurück, da sie von der Rot/Grünen-Landesregierung nur behindert wurde. Der Präsident der Leukämie-Kommission, Prof. Dr. Otmar Wassermann, äußerte den Verdacht, dass im angeschlossenen Forschungszentrum Geesthacht verbotene Experimente mit Kleinstatombomben durchgeführt worden sind, die zu einem verheerenden Unfall führten.

Nach Tschernobyl wurden in den USA zwei völlig neue Atomkraftwerke (Investition von acht Milliarden Dollar) vom Netz genommen, da sie sich 100 beziehungsweise 120 Kilometer von den Großstädten Boston (AKW Sea-brook) und New York (AKW Shoreham, Long Island) befanden und somit eine Evakuierung nicht möglich wäre. Deutschlands Politiker scheint es nicht zu beeindrucken, dass sie ihre Bevölkerung eventuell opfern müssen. 

D. M.: Also wie sicher sind nun die deutschen Kernkraftwerke?

H. S.: Richard Webb, der das erste AKW der USA mit entwarf und Atomanlagen in der ganzen Welt inspizierte, sagte nach Tschernobyl im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“: „Jedes Reaktordruckgefäß kann bersten … Ich habe berechnet, dass beim Bersten des Druckbehälters sein 100 Tonnen schwerer Deckel 500 Meter hoch geschleudert werden kann und dabei das Reaktordruckgebäude vollständig zerstört wird. Ich habe auch viele Gutachten über Reaktoren in der Bundesrepublik erstellt … In vielerlei Hinsicht sind die Reaktoren der BRD unsicherer als die vom Tschernobyl-Typ.“

D. M.: Tschernobyl sicherer als deutsche AKWs – das hört sich völlig abwegig an.

H. S.: Tschernobyl wurde von der westlichen Fachpresse als besonders sicher gelobt. Aber es gibt wichtige Unterschiede zwischen diesem Reaktor und denen der BRD. 

In einem deutschen AKW wird jährlich pro Mega-Watt-Leistung eine vergleichbare radioaktive Strahlung von einer detonierten Hiroshima-Bombe erzeugt. Demnach würde Krümmel (Geesthacht) mit 1 400 MW-Leistung in sechs Jahren eine Strahlung von 8 400 detonierten Hiroshimabomben erzeugen.

Der Tschernobyl-Reaktor war ein Militärreaktor, in dem waffenreines Plutonium erzeugt wurde. Dabei werden die Brennelemente wöchentlich ausgetauscht, im Gegensatz zu Deutschland, wo sie ungefähr sechs Jahre verbleiben.

Hinzu kommt, dass deutsche Reaktoren mit höherem Abbrand gefahren werden und Krümmel erheblich größer ist als der Unglücksreaktor in Tschernobyl. Das kann im ungünstigen Fall bedeuten, dass sich über das tausendfache an Radioaktivität in einem deutschen Reaktor befinden kann.

D. M.: Der Tschernobyl-Reaktor wurde mit Graphitstäben gesteuert, die mit hohen Temperaturen brannten und die Strahlung kilometerweit in die Höhe trieben, wo sie von starken Winden verteilt und um die ganze Welt verbreitet wurden. Kann das auch in Deutschland geschehen?

H. S.: Deutsche Reaktoren werden mit einer unbrennbaren, flüssigen Borlösung gesteuert. Bei einem vergleichbaren Unfall hier würde die Strahlung nicht in große Höhe getrieben, sondern nach ihrem Austritt erkalten und vom Wind als absolut tödliche Wolke vor sich hergetrieben. Hinzu kommt, dass die Bevölkerungsdichte in Deutschland zehnmal höher ist als in der Unglücksregion von Tschernobyl.

D. M.: Was würde solch ein Unfall für die deutsche Bevölkerung bedeuten?

H. S.: Es würden Millionen Menschen sofort sterben, weitere Millionen würden mit großen Qualen dahinsiechen und danach Millionen Kinder mit genetischen Schäden zur Welt kommen. Deutschland und einige Nachbarländer würden unbewohnbar. Die Kosten würden astronomisch sein.

D. M.: Aber für solche Fälle gibt es doch den Katastrophenschutz, der die betroffenen Menschen evakuiert und medizinisch versorgt.

H. S.: Hamburg und andere Städte lassen sich nicht in wenigen Stunden evakuieren. Im Gegenteil, die Menschen werden von innen und außen strahlen. Sie müssen nach geheimen Plänen daran gehindert werden, das Gebiet zu verlassen. Brücken und Straßen werden gesperrt. Nur Politprominente wie Merkel, Stoiber, Wulf, Oettinger, Glos würden per Hubschrauber evakuiert. Der Rest der Bevölkerung verreckt.

D. M.: Kann man diesen Menschen überhaupt helfen?

H. S.: Urteilen Sie selbst, wenn sie die folgenden Zeilen des „Englischen Medizinischen Forschungsrats“ über die Strahlenopfer gelesen haben, die nicht sofort gestorben sind:

„Von der dritten Woche an entstehen kleine, zu Blutungen neigende Risswunden auf der Haut und im Mund. Gleichzeitig treten Geschwüre im Mund und in den Gedärmen auf. Die Nahrungsaufnahme wird unmöglich und die Wunden entzünden sich immer mehr. Durch Durchfall, begleitet von hohem Fieber, wird der Patient vollkommen entkräftet. Die Haare fallen in Büscheln aus und Delirien können folgen. Die Anzahl der roten Blut- körperchen geht zurück und die der weißen hat ihren größten Tiefpunkt erreicht. … Wenn der Tod dann noch nicht einsetzt, folgt etwas Schlimmeres: Weiterleben, verbunden mit Gewichtsabnahme, Verkrüppelungen, maßlosen Schmerzen, Krebs und Leukämie, Beeinträchtigung der Geschlechtsorgane und Keimzellen, die, wenn überhaupt noch zeugungsfähig, nur Missgeburten hervorbringen können.“

Bei einer starken radioaktiven Verseuchung ist ein schneller Tod das gnädigste Schicksal, stellten amerikanische Spezialisten in Tschernobyl fest.

D. M.: Existieren noch weitere Probleme, die die Atomenergie unakzeptabel machen?

H. S.: Atomkraftwerke müssen vor Sabotage und Terrorismus geschützt werden. Doch das ist unmöglich. Denn bereits mit einer Panzerfaust (großkalibrige Panzerabwehrhandwaffe) lässt sich jedes Atomkraftwerk weltweit bis zum Super-GAU zerstören. Jedes AKW eignet sich hervorragend, um Materialien für Atombomben abzuzweigen und dient somit der Weiterverbreitung von Atomwaffen, die heute schon ein unlösbares Problem darstellen.

Hinzu kommt der Transport und die Lagerung von hochradioaktivem Müll, der für 20 Millionen Jahre sicher aus der Umwelt ferngehalten werden muss. Bisher gibt es dafür weltweit keine Lösung und die Kosten würden dreistellige Billionenzahlen ausmachen.

D. M.: Glos sagte: Ohne Atomkraft würde der Strom noch teurer.

H. S.: Atomstrom ist die teuerste Energie überhaupt. Sie wird billig gemacht, weil die Bevölkerung die Rechnung bezahlt und das Risiko trägt. In Deutschland wurde die Atomenergie mit mindestens 100 Milliarden Euro aus Steuergeldern subventioniert.

Um die Risiken eines Super-GAUs zu versichern, würden private Versicherungs- gesellschaften Prämien verlangen, die die Kilowattstunde auf über zwei Euro Kosten treiben würde, stellte das renommierte Schweizerische „Prognos-Institut“ in Basel in einer von der deutschen Bundesregierung finanzierten umfangreichen Studie fest.

Das „Wall Street Journal“ empfiehlt nicht umsonst „Hände weg vom Atom!“. Und die „Financial Times“ dokumentierte, die Nukleartechnologie sei der „kostspieligste Fehler der britischen Industriegeschichte“ gewesen.

D. M.: Nehmen wir an, dass alle fossilen Brennstoffe also Kohle, Gas und Öl versiegen. Dann bliebe uns doch nur noch die Möglichkeit des Atomstroms von Reaktoren, die sich ihren eigenen Brennstoff selber erzeugen.

H. S.: Angenommen die fossilen Brennstoffe würden durch das Atom ersetzt, dann wären die Uranvorräte noch schneller aufgebraucht als die des Öls. Der „Schnelle Brüter“ (Reaktor) wurde entwickelt, um aus Uran 238 Plutonium 239 als neuen Brennstoff zu erzeugen, um vom Öl und Gas unabhängig zu werden.

Doch der Schnelle Brüter war ein kompletter Reinfall. Der Super-Phönix (Brüter) in Frankreich erbrütete keinen zusätzlichen Brennstoff, sondern verschlang zehn Milliarden Euro. Und auch der schnelle Brüter in Kalkar, Deutschland, durfte nicht in Betrieb gehen, da man eine atomare Explosion befürchtete und die Sicherheitsprobleme unlösbar schienen.

D. M.: Doch ist die Atomenergie nicht notwendig, um das Klima zu retten?

H. S.: Um ein Nuklearkraftwerk zu bauen, benötigt man viel Energie zur Errichtung der Infrastruktur und Anlagenausrüstung. Außerdem werden beim Abbau der Uranerze und der Anreicherung des Urans enorme Mengen Energie benötigt. Diese Energie kommt oft aus Kohlekraftwerken, die dabei viel Kohlendioxid ausstoßen. Hinzu kommt ein weiterer Nachteil: In Atomkraftwerken wird immer radioaktives Krypton erzeugt, das sich nicht zurückhalten lässt und zwangsläufig frei wird. Krypton ist hundertfach schädlicher als das Kohlendioxid. Zusätzlich heizt jeder Energieverbrauch die Erdatmosphäre auf, da bei der Umwandlung von Energie in Arbeit Wärme frei wird.

Wenn wir wirklich das Klima retten wollen, geht das nur über einen drastisch verringerten Energieverbrauch.

WHO fälscht Tschernobyl Opferzahlen

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 20 Jahren hat den Menschen erstmals deutlich vor Augen geführt, welche Gefahr die Atomkraftwerke darstellen. Millionen Menschen wurden über Nacht zu Opfern. Riesige Gebiete wurden dauerhaft unbewohnbar. Die radioaktive Wolke zog um die ganze Erde.

Doch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Internationale Atomenergie- behörde (IAEA) geben nun – pünktlich zur weltweiten Atomkraft-Euphorie – Entwarnung: Nur 58 Menschen seien infolge des Super-GAUs von Tschernobyl gestorben (Presse- erklärung der IAEA vom 5.9.2005), und auch künftig seien höchstens 4 000 zusätzliche Krebs- und Leukämietote unter den am meisten belasteten Menschengruppen zu befürchten. Eine Zahl, die aufatmen lässt?

Keineswegs, denn die Zahlen stimmen nicht. Eine Studie der atomkritischen Ärzte- organisation IPPNW und der Gesellschaft für Strahlenschutz hat die schön- gefärbten Zahlen widerlegt. So spricht der Bericht, auf den sich die WHO stützt, von 9 000 Toten durch den Reaktor-Unfall. „Überprüft man schließlich noch die im WHO-Bericht zu dieser Frage angegebene Literaturquelle, so ergeben sich aus dieser Quelle sogar 10 000 bis 25 000 zusätzliche Krebs- und Leukämietote“, erklärt Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz.

Befangene Behörden

Wer sich über diese Schönfärberei wundert, findet Antworten in der Satzung der IAEA. Denn die Organisation hat satzungsgemäß die Aufgabe, die Atomenergie zu fördern. Auch die WHO ist nicht unabhängig, denn ein Vertrag mit der IAEA aus dem Jahre 1959 hindert sie an einer unabhängigen Erforschung und an der Aufklärung der Öffentlichkeit über die wahren Folgen der Tschernobyl-Katastrophe. So kann die IAEA verlangen, dass Forschungsergebnisse beispielsweise zu den tatsächlichen Gesundheitsfolgen der Reaktorkatastrophe, die für die Interessen und Ziele der IAEA nachteilig sind, den Status der Vertraulichkeit erhalten und deshalb von der WHO, trotz detaillierter Kenntnis, der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden dürfen.

Die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen gibt zu Bedenken, dass wesentliche Daten zur Tschernobyl-Katastrophe der Geheimhaltung in Ost und West unterlägen und große epidemiologische Untersuchungen sehr teuer und nur mit staatlicher Unterstützung möglich seien. Dennoch sei es möglich, Anhaltspunkte dafür zu geben, „mit welcher Vielfalt von Gesundheitsschäden wir uns befassen müssen und mit welchen Größenordnungen man es zu tun hat.“

Tatsächliche Folgen

Die Studie von IPPNW und der Gesellschaft für Strahlenschutz mit dem Titel „Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl – 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe“ belegt anhand von wissenschaftlichen Studien, Einschätzungen von Fachleuten und offiziellen Angaben von Behörden das katastrophale Ausmaß des Reaktorunfalls:

- Bis zum Jahr 2006 sind 50 000 bis 100 000 Liquidatoren (Aufräumarbeiter) gestorben. Zwischen 540 000 und 900 000 Liquidatoren sind Invaliden. 

- Die Erbgutveränderungen bei Kindern von Liquidatoren und Menschen, die in belasteten Gebieten leben, werden zu einer Belastung künftiger Generationen führen, die man nicht abschätzen kann. 

- Die Säuglingssterblichkeit hat in mehreren europäischen Ländern – darunter auch in Deutschland – nach Tschernobyl zugenommen. Die vorliegenden Studien ergeben für Europa Todesfälle unter Säuglingen in der Größenordnung von 5 000. 

- Allein in Bayern kam es nach Tschernobyl zu 1 000 bis 3 000 zusätzlichen Fehl- bildungen. Es ist möglich, dass es in Europa zu mehr als 10 000 schwerwiegenden Fehlbildungen kam.

- Unter Bezug auf UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation) kommt man auf 12 000 bis 83 000 mit genetischen Schäden geborene Kinder in der Tschernobylregion und etwa 30 000 bis 207 500 weltweit. In der ersten Generation findet man allerdings nur 10 Prozent der insgesamt zu erwartenden genetischen Schäden.

- In Weißrussland erkrankten seit 1986 über 10 000 Menschen an Schilddrüsenkrebs. Einer WHO-Prognose zufolge werden allein im belorussischen Gebiet Gomel mehr als 50 000 Kinder im Laufe ihres Lebens Schilddrüsenkrebs bekommen. In allen Altersgruppen zusammengenommen wird man dann mit etwa 100 000 Schilddrüsenkrebsfällen in dem Gebiet Gomel rechnen müssen. 

- Die Zahl der bisher durch Tschernobyl bedingten Schilddrüsenkrebsfälle wird in Europa (außerhalb der Grenzen der früheren Sowjetunion) zwischen 10 000 und 20 000 liegen. 

- In höher belasteten Gebieten Süddeutschlands gab es eine signifikante Häufung eines sehr seltenen Tumors bei Kindern, des so genannten Neuroblastoms. 

- Zu signifikanten Anstiegen der Leukämieerkrankungen kam es in Deutschland, in Griechenland, in Schottland und in Rumänien. 

Die Russische Akademie der Wissenschaften rechnet mit 93 000 zusätzlichen Krebs- todesfällen durch die Reaktorkatastrophe. Während die IAEA auf bislang 58 Todesfälle kommt, gehen andere Quellen davon aus, dass allein von den 600 000 Katastrophen-Einsatzkräften bis heute bereits 50 000 an den Folgen gestorben sind. Die Russische Akademie der Wissenschaften erwartet nach Greenpeace-Angaben allein in Weißrussland, der Ukraine und Russland 270 000 zusätzliche Fälle von strahlungsbedingten Krebserkrankungen. 

Selbst nach einem halben Jahr nach Erscheinen hat die WHO ihre offensichtlich falschen Zahlen nicht korrigiert …

Quelle: IPPNW, Süddeutsche Zeitung, 19.4.2006

Fortsetzung des Interviews

D. M.: Was bleibt uns da noch an Energiequellen?

H. S.: Deutschland verfügt immer noch über große Kohlevorkommen, die mit neuen Technologien verflüssigt und umweltfreundlich genutzt werden können. Doch man hat die Kohleflöze absaufen lassen, um uns zur Atomenergie zu zwingen.

Hinzu kommt das Energieeinsparpotential, was noch in keiner Weise ausgeschöpft wurde. 

Der Nobelpreisträger und Energiespezialist Amory Lovins hat bewiesen, dass der Energieverbrauch auf ein Zwanzigstel gesenkt werden kann, ohne dass der Lebensstandard darunter leidet und dabei sogar unsere Lebensqualität erhöht wird.

Zur Person

Holger Strohm war Spitzenkandidat der Bunten Liste, dem Vorläufer der Grünen, deren Konzept er bereits 1977 entwickelte.
Er gilt als bedeutender europäischer Denker und Philosoph, der vor über 30 Jahren für Olof Palme das skandinavische Schulsystem entwickelte. Strohm hat 80 Bücher geschrieben, davon zehn über die Atomenergie, unter denen sich zahlreiche Bestseller befanden („Friedlich in die Katastrophe“). Als Experte für Atomenergie, Klima- und Umweltschutz beriet er den Innenausschuss des Deutschen Bundestages über Reaktorökonomie und Reaktorsicherheit, den Vorsitzenden des einflussreichen US-Senat Committee on Government Operations. Sowohl der schwedische Ministerpräsident Olof Palme als auch der dänische Ministerpräsident Anker Joergensen beriefen sich in ihrer ablehnenden Haltung zur Atomenergie ausdrücklich auf „Friedlich in die Katastrophe“. 

Holger Strohm galt nach dem Tschernobyl-GAU, den er in Vorträgen vorausgesagt hatte, als Störenfried der deutschen Politik – man erschwerte ihm das Leben in Deutschland, sodass er nach Portugal auswanderte. Die portugiesische Presse schrieb: Strohm sei zu kritisch und zu intelligent für Deutschland. Als so genannter Staatsfeind deklariert, gibt es kein einziges Buch mehr von ihm zu kaufen – der deutsche Buchhandel wurde komplett gesäubert.

Fünf Gründe gegen Atomkraft

1. Bereits der Abbau von Uranerz schädigt Mensch und Natur. Bergleute werden einer enormen Strahlenbelastung ausgesetzt, Gewässer und Böden werden radioaktiv verseucht.
Allein der Uranerzbau in der DDR forderte 7 000 Tote durch Lungenkrebs. Die Sanierung der verstrahlten Umwelt kostet den deutschen Steuerzahler rund sieben Millionen Euro.

2. Auch Uran ist endlich. Nicht nur Öl wird knapp und teuer, die weltweiten Reserven an Uran sind ebenso begrenzt. Die gesicherten und vermuteten Vorkommen reichen ungefähr bis zur Mitte des Jahrhunderts – unter der Voraussetzung, dass es beim jetzigen Verbrauch bleibt. Sollte die Atomenergie ausgebaut werden, geht der Brennstoff entsprechend schneller zur Neige. 

3. Atomkraft bleibt ein unkalkulierbares Risiko. Vor Tschernobyl kam es bereits im britischen Windscale (1957) und im amerikanischen Harrisburg (1979) zu schwersten Atomunfällen.
Diese Gefahr geht die Menschheit ein, obwohl Atomkraft nur einen Anteil von 2,7 Prozent zur weltweiten Energieversorgung beiträgt.

4. Die Lagerung des hochradioaktiven Mülls ist ungelöst. Alle Staaten mit Atomkraftwerken haben das gleiche Problem. Rund 200 000 Tonnen sind mittlerweile angefallen. Selbst die klügsten Köpfe scheinen überfordert, einen Ort zu finden, an dem diese strahlende Altlast wenigstens
100 000 Jahre sicher gelagert werden kann. Plutonium strahlt noch weit länger.

5. Die friedliche Nutzung der Atomkraft erhöht das Risiko eines Atomkrieges oder Terroranschlages. Aufbereitetes Uran, das im Atomkraftwerk als Brennstoff notwendig ist, kann zur Herstellung von Atombomben genutzt werden. Neben den offiziellen Atommächten haben Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea die Bombe. Der Iran will sie ebenfalls.

Quelle: Natur+Kosmos 04/2006

Die Autorin

Diana Müller wurde am 26.3.1979 in Cottbus geboren.
Seit 2006 arbeitet sie als Freie Autorin und möchte mit ihren Reportagen und Interviews aufrütteln, neue Denkanstösse geben und zu großen Visionen anregen.

Igor Kostin

Geboren 1936 in Moldawien. Krieg und Besatzung prägten seine Kindheit. Nach seinem Militärdienst arbeitete er zehn Jahre als leitender Ingenieur in einem Unternehmen. 1972 beendete Kostin seine Karriere, um Fotograf zu werden, hatte sein eigenes Fernsehprogramm über Fotografie und arbeitete als Reporter für die Nachrichtenagentur Nowosti in der Ukraine. Als Fotograf, der die ersten Bilder der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl schoss und ihre Folgen über 20 Jahre dokumentierte, wurde Kostin zur Legende.
Igor Kostin: „Tschernobyl – Nahaufnahme“, geb., 240 S., Kunstmann Verlag, 2006, ISBN 3-88897-435-6, 24,90 E 

Literatur zum Thema

Gruhl, Herbert: „Der atomare Selbstmord“, Herbig, München 1986, ISBN 377661448X
Strohm, Holger: „Friedlich in die Katastrophe“, Verlag zweitausendeins, Frankfurt 1981
ders.: „Die stille Katastrophe“, Verlag zweitausendeins, Frankfurt 1986 
Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.): „Mythos Atomkraft“, Ein Wegweiser, Berlin 2006

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