Schamanismus

Die ganzheitliche Medizin entdeckt die Heilmethode aus der Steinzeit

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Immer mehr Ärzte, Heilpraktiker und Psychotherapeuten erkennen die Kraft und Effektivität des Schamanismus als Heilmethode. Warum ist das so? Kann man seine Techniken tatsächlich auf unsere westliche technisierte Welt übertragen? raum&zeit fragte einen, der es wissen muss: Pa...
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Schamanismus
Interview mit Paul Uccusic, Wien, von Peter Orzechowski, Wolfratshausen – raum&zeit Ausgabe 162/2009

Immer mehr Ärzte, Heilpraktiker und Psychotherapeuten erkennen die Kraft und Effektivität des Schamanismus als Heilmethode. Warum ist das so? Kann man seine Techniken tatsächlich auf unsere westliche technisierte Welt übertragen? raum&zeit fragte einen, der es wissen muss: Paul Uccusic, Direktor der Foundation for Shamanic Studies Europe.

Erforscher des Schamanismus

"Das aufkeimende Feld der Ganzheitsmedizin zeigt eine ungeheure Menge an Experimenten, welche viele bereits lange im Schamanismus praktizierte Techniken wieder erfindet, wie beispielsweise Visualisierung, veränderte Bewusstseinszustände, Aspekte der Psychoanalyse, Hypnotherapie, Meditation, positive Einstellung, Stress-Abbau und mentaler und emotionaler Ausdruck des persönlichen Willens zur Gesundung und Heilwerdung. Im gewissen Sinne wird Schamanismus im Westen wiederentdeckt, weil er gebraucht wird.“1

Der amerikanische Anthropologieprofessor Michael Harner, der diesen Befund bereits in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erstellt hat, erforscht seit über 50 Jahren die Kernelemente des weltweiten Schamanismus. Er hat seine Erkenntnisse in seinem Lehrsystem des Core-(=Kern-)Schamanismus zusammengefasst, mit dem er auch westlich sozialisierten Menschen das Erleben von Kraft und Heilung ermöglichen will. Diese Aufgabe übernimmt weltweit die von ihm gegründete „Foundation for Shamanic Studies“. 2
Paul Uccusic, Jahrgang 1937, der Chemie, Physik und Mathematik an der Universität in Wien studiert hat und Jahrzehnte lang als Journalist für verschiedene österreichische Tageszeitungen tätig war, ist Harner 1981 in Alpbach, Tirol, begegnet. Danach hat ihn die Beschäftigung mit dem Schamanismus nicht mehr losgelassen. Seit fast 20 Jahren ist er für die Ausbildung in Europa verantwortlich. Ich traf Paul Uccusic im westfälischen Münster, wo er eine Einführung in den Schamanismus als Wochenendseminar durchführte.

Das Interview

raum&zeit: Worauf führen Sie das enorme derzeitige Interesse am Schamanismus zurück?

Paul Uccucsic: Darauf, dass viele Menschen heute eine spirituelle Leere empfinden. Sie sind enttäuscht von den Kirchen, weil diese keine Möglichkeiten anbieten, die eigene Spiritualität zu entfalten. Und außerdem vermittelt einem das schamanische Erleben die Erfahrung, dass wir nicht allein sind auf dieser Welt. Wir sind immer beschützt und geführt von geistigen Wesen.

r&z: Schamanismus also als spirituelle Erfahrung. Aber auch die ganzheitliche Medizin ist derzeit dabei, schamanistische Techniken zu entdecken und zu integrieren …

P. U.: Der Schamanismus sieht den Menschen ganzheitlich. Er setzt schon seit Tausenden von Jahren geistige Kräfte zur Gesundung und Erhaltung der Gesundheit ein. Und heute stehen diese uralten Techniken wieder im Mittelpunkt der neuen Medizin.

Denken Sie nur zum Beispiel an eine der zentralen Methoden: das Trommeln. Durch monotones Trommeln mit einer Frequenz von vier bis sieben Schlägen pro Sekunde versetzt der Schamane sein Gehirn in den Frequenzbereich der so genannten Theta-Wellen. Auch die westliche Hypnose benutzt diese Frequenzen, um an unterbewusste Inhalte heranzukommen.

r&z: Darüber hinaus hat der Schamanismus die so genannte spirituelle Ökologie stark beeinflusst. Warum?

P. U.: Der Schamanismus bietet etwas, das keine der großen Weltreligionen predigt: Ehrfurcht vor und spirituelle Kommunikation mit allen Wesen und mit der Erde selbst. Die Schamanen waren, wie Mircea Eliade einmal sagte, die letzten Menschen, die imstande waren, mit den Tieren zu reden. Aber nicht nur das: Sie redeten ja auch mit den Wassern, der Luft, den Steinen, kurzum mit dem, was die Lakota „alle unsere Verwandten“ nennen. Nur diese innige Kommunikation und liebende Zuwendung kann heute – so glauben die Schamanen der indigenen Völker – unser Überleben retten.

r&z: Eine so eindeutige Aussage überrascht mich aus dem Mund eines Naturwissenschaftlers …

P. U.: Ich versuche seit 1971, parapsychologische Vorgänge naturwissenschaftlich erklären zu können. Damals recherchierte ich – hauptsächlich in England und den USA – für eine Zeitungsserie das Phänomen der Geistheilung und traf beeindruckende Menschen wie Harry Edwards, Tom Johanson, Paul Beard, Charles Honorton, Karlis Osis, J.B. Rhine, Louisa Rhine, Edgar Mitchell und andere. Besonders geprägt hat mich dann die Begegnung mit Michael Harner 1981. Was Harner geschafft hat, war, reproduzierbare Ergebnisse zu schaffen. Das hat mir meine ursprüngliche Skepsis gegenüber dem Schamanismus genommen.

r&z: Inwiefern hat Harner reproduzierbare Ergebnisse geschaffen?

P. U.: Harner hat aufgrund seiner weltweiten Feldstudien herausgefunden, dass es fundamentale Prinzipien der schamanistischen Praxis gibt, die sich bei allen indigenen Völkern als grundlegend dieselben erwiesen, egal ob sie in Sibirien, Australien, Südafrika, Nord- oder Südamerika beheimatet sind. Dennoch ist der Schamanismus – wie Harner immer wieder betont – weder Glaubenssystem noch Dogma, sondern ein Weg, der auf direkter Erkenntnis durch persönliche Erfahrung gründet.

r&z: Sind diese fundamentalen gemeinsamen Prinzipien das, was Harner Kern-Schamanismus nennt?

P. U.: Genau. Und auf diesen Grundlagen praktischen schamanistischen Wissens hat Harner ein Programm entwickelt, das es jedem Menschen – also auch uns westlich technologiefreundlichen – ermöglicht, sich in der spirituellen Welt zu bewegen und dabei die Erfahrung zu machen, dass uns das Universum offen steht.

r&z: Harner bezeichnet die spirituelle Welt als die so genannte nicht-alltägliche Wirklichkeit …

P. U.: Ja, das ist ein Begriff, den er von Carlos Castaneda übernommen hat. Jeder Mensch hat schon Reisen in diese Wirklichkeit unternommen, zum Beispiel im Traum. Der Schamane dagegen reist willentlich und absichtsvoll in diese geistigen Regionen, um aus diesen wichtiges Wissen in die Alltagswirklichkeit zu bringen. Denn dort trifft er seine spirituellen Lehrer oder andere Verbün dete wie etwa Krafttiere und erhält von ihnen Hinweise, wie er Krankheiten erkennen und Kranken helfen kann. Oder wie er verloren gegangene Gegenstände finden kann. Häufig kommuniziert er dabei auch mit den Seelen Verstorbener.

r&z: Muss man sich die nicht alltägliche Wirklichkeit also als Bereich der Zeitlosigkeit vorstellen?

P. U.: Absolut. Auch zum Zeitpunkt unseres physischen Todes bewegen wir uns ins Außerzeitliche. Darin besteht ja das in vielen Totenbüchern beschriebene mystische Erleben.

r&z: Der Schamanismus gliedert die nicht alltägliche Wirklichkeit in drei Felder: die obere, mittlere und untere Welt. Ist das mit der christlichen Einteilung in Himmel, Erde und Hölle vergleichbar?

P. U.: Nein. Im Schamanismus wird mit dieser Einteilung keinerlei Wertung ausgedrückt. Die obere Welt wird zwar als „im Himmel befindlich“ erdacht und bereist und die untere als im Erdinneren. Aber die eine ist nicht etwa die gute und die andere die böse. Es liegt nur am Zugang: Nach oben gelangt man durch einen Sprung von der Baumkrone oder den Abflug von einem Berggipfel oder mithilfe der Flammen oder dem Rauch eines Feuers. Und um in die untere Welt zu reisen, visualisiert oder fühlt der Schamane, wie er durch ein Loch im Boden, einen hohlen Baumstamm, eine Höhle, eine Quelle oder einen Teich hinuntergeht. Die mittlere Welt ist die Zeitebene, in der wir uns im Alltag bewegen.

r&z: Gibt es auch in dieser Welt des Hier und Jetzt nicht alltägliche Wirklichkeiten?

P. U.: Ja, wie bereits angesprochen die Reisen, die wir im Traum oder in unserer Phantasie unternehmen. Es gibt sogar nicht alltägliche Wesenheiten wie Gnomen, Elfen und dergleichen. Das sind Naturgeister, die für die Erde zuständig sind. Allerdings sollte man denen mit Vorsicht begegnen. Sie können auch Trickster sein. Aber das Krafttier, das jedem Menschen zur Seite steht, kann gut mit ihnen umgehen.

r&z: Der Begriff Krafttier klingt zunächst fremd in unseren Ohren …

P. U.: Für die Schamanen sind Tiere beseelte Wesen. Tiere haben kraftvolle Energien, die sie uns anbieten. Das ist sozusagen der Geist oder Spirit des Tieres. Der Geist des Tieres umfasst sein gesamtes Wesen, seine Seele. Und dieses Wesen stellt sich uns als Helfer zur Verfügung. Vor allem gibt es uns Kraft zurück, die wir verloren haben.

r&z: Aus meiner eigenen Arbeit weiß ich, dass schamanische Arbeit immer mit Kraft zu tun hat. Warum ist das so?

P. U.: Das Fundament unseres Wohlbefindens ist immer die Erhaltung oder die Wiederherstellung der eigenen Kraft. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Im schamanischen Verständnis hat der Mensch mehrere Seelenteile. Bei psychischen Verletzungen oder Traumata, etwa wenn ein Kind missbraucht wird, bringt sich der verletzte Seelenteil in Sicherheit, um nicht an den unerträglichen psychischen Schmerzen zugrunde zu gehen. Dieser Seelenverlust führt jedoch zwangsläufig zu einem Kraftverlust: Die Seele ist ja nicht mehr ganz und heil und damit stark. Der Energie- und Kraftverlust kann dann leicht zu Depression, Antriebslosigkeit, Lethargie, mangelndem Selbstwertgefühl, Lebensunlust und so weiter führen. Der Schamane versucht nun, den verlorenen Seelenteil des Pa tienten zurückzuholen und ihm damit seine Lebenskraft wieder zu geben.

r&z: Wo findet der Schamane denn diesen verlorenen Seelenteil?

P. U.: In der nicht alltäglichen Wirklichkeit. Nach Absprache mit seinem Krafttier und/oder seinem geistigen Lehrer findet der Schamane diesen Seelenteil und bringt ihn zurück.

r&z: Kann es dann nicht bei dem Patienten zu intensiven Emotionen kommen – etwa dass die alten unterdrückten Traumata wieder ins Bewusstsein gelangen und damit erneut Wut, Trauer oder Schmerz auslösen?

P. U.: Das geschieht eigentlich immer. Daher muss der Schamane den zurück geholten Seelenteil in die Gesamtseele des Patienten integrieren. Wahrscheinlich muss der Patient auch sein bisheriges Verhalten ändern.

r&z: Warum sollten sich Menschen auf den Schamanismus einlassen?

P. U.: Weil der Schamanismus einfache und kraftvolle Techniken anbietet, um persönliche Kraft zurückzuerlangen oder zu bewahren oder um anderen zu helfen. Und weil die Anwendung dieser Techniken weder einen „Glauben“ noch eine Änderung Ihrer Vorstellungen über die Wirklichkeit, die Sie in Ihrem alltäglichen Bewusstseinszustand haben, verlangt. Sie müssen gar nichts ändern, denn der Schamanismus weckt nur auf, was bereits vorhanden ist.

Der Autor

Peter Orzechowski, Jahrgang 1952, hat Geschichte, Germanistik und Politologie studiert und danach als Journalist gearbeitet. Er ließ sich in Los Angeles zum Hypnosetherapeuten ausbilden und veranstaltete Seminare mit dem Apacheschamanen Morgan EagleBear. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland setzte er seine publizistische Tätigkeit fort. Seit Juli 2008 veranstaltet er Seminare im Rahmen der naturwissen LEB®/H-Ausbildung.

Literatur

1 Harner, Michael: „Der Weg des Schamanen", Kreuzlingen/München (Hugendubel Verlag) 2007.
2 www.shamanicstudies.net 

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