Licht im Dunkel

Die Botschaft der Überlebenden von Auschwitz

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© Denise Raasina

In Auschwitz fand einer der schwersten Angriffe auf die Menschlichkeit in der Geschichte der Zivilisation statt. Weit mehr als eine Million Menschen fielen dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten zum Opfer. Wie gelang es den Überlebenden, diesen Angriff als Mensch zu überstehen? Was...
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Licht im Dunkel
Von Christa Spannbauer, Berlin – raum&zeit Ausgabe 183/2013

In Auschwitz fand einer der schwersten Angriffe auf die Menschlichkeit in der Geschichte der Zivilisation statt. Weit mehr als eine Million Menschen fielen dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten zum Opfer. Wie gelang es den Überlebenden, diesen Angriff als Mensch zu überstehen? Was gab ihnen die Kraft zum Leben, Überleben und Weiterleben? Für den Dokumentarfilm „Mut zum Leben“ begaben sich Christa Spannbauer und der Regisseur Thomas Gonschior auf eine Spurensuche und begegneten drei bemerkenswerten Menschen.

Solidarisch in der Not

Wie gelingt es Menschen, ihren Glauben an die Menschlichkeit zu bewahren – nach all dem Entsetzlichen, was sie in Auschwitz sehen und am eigenen Leibe erfahren mussten? Diese Frage sollte mich nach der ersten Begegnung mit Éva Fahidi bei ihrer Buchpräsentation in Berlin nicht mehr loslassen. Woher nur nimmt diese Frau ihre ansteckende Lebensfreude und den Glauben an das Gute im Menschen – sie, die ihre gesamte Familie an der Rampe von Auschwitz an die Gaskammer verloren hat? Um das herauszufinden, sitzen wir ihr einige Wochen später mit der Filmkamera in ihrer stilvollen Budapester Altbauwohnung gegenüber. „Ich durfte auch in Auschwitz erfahren, dass es immer Menschen gibt, die einem in der größten Not beistehen“, sagt sie. Und dann beginnt sie zu erzählen: Von den vielen Gesten der Solidarität zwischen den Frauen in ihrer Baracke, von dem Trost, den sie sich gegenseitig spendeten, der Hoffnung, die sie nie aufgaben und der Bereitschaft, selbst den letzten Bissen Brot miteinander zu teilen. Gebannt lausche ich den Erzählungen von Menschen, die sich mit aller Entschlossenheit gegen die Entmenschlichung und Entwürdigung zur Wehr setzten. „In uns, die wir aus Auschwitz zurückgekommen sind, ist die Lebenskraft sehr tief. Wir wissen, wie teuer das Leben ist“, resümiert sie. 

Nein, die Zeit heilt keine Wunden. Sie kann nur lehren, mit diesen Wunden zu leben. Der Schmerz bleibt. Die Toten auch. Sie altern nicht. Noch heute träumt die 87-jährige davon, dass ihre kleine Schwester plötzlich vor der Tür steht und sagt: „Wir haben uns aber lange nicht gesehen. Wollen wir ein Rad schlagen?“ 

Aktiv gegen Neonazis

Unsere Spurensuche der Menschlichkeit führt uns weiter nach Hamburg. Dort treffen wir auf eine sehr kleine Frau mit einer sehr großen Wirkung: Die Sängerin und Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Komitees Esther Bejarano. Eine Frau von funkensprühender Vitalität und eine unermüdliche Kämpferin gegen Fremdenfeindlichkeit und Faschismus. Als 18-Jährige musste sie im Mädchenorchester von Auschwitz um ihr Leben spielen. Heute tritt sie mit Musikern der nächsten Generationen auf und setzt sich gemeinsam mit ihnen für Toleranz und Völkerverständigung ein. Um ihre Botschaft an junge Menschen zu bringen und sie zum Widerstand gegen Neonazis aufzurufen, ist sie mit ihren 88 Jahren nun sogar unter die Rapper gegangen und tourt mit der Hiphopband „Microphone Mafia“ durch das Land: „Wir sind Juden, Moslems und Christen auf der Bühne. Und wir vertragen uns großartig. Damit wollen wir auch ein Zeichen setzen gegen die zunehmende Fremdenfeindlichkeit.“  

Erschüttert aber nicht zerbrochen

Diese mutigen Menschen, die sich von dem, was sie erleben mussten, zwar erschüttern, aber nicht zerbrechen ließen, können uns und nachfolgenden Generationen viel lehren. Der israelische Maler Yehuda Bacon verlor als 14-Jähriger seine Familie und überlebte Auschwitz als eines der wenigen Kinder unter unvorstellbaren Bedingungen. Heimlich und unter Lebensgefahr fertigte er Zeichnungen vom Leben und Sterben im Vernichtungslager an, um nach seiner Befreiung bezeugen zu können, was geschah. Auf die Frage, ob denn ein Sinn in solch einem Leiden zu finden sei, antwortete er mit dem ihm eigenen Sanftmut: „Es kann Sinn haben, wenn es einen Menschen so tief erschüttert, bis zu den Wurzeln seines Seins, und er dann erkennt, dass der Nächste ist wie er selbst.“ 

Erfahrenes Leid nicht zu verdrängen, sondern auszuhalten, sein destruktives Potenzial zu überwinden und zu transformieren, darin liegt die menschliche Größe vieler Überlebender. Das künstlerische Lebenswerk des mittlerweile 84-Jährigen bringt diese auf Versöhnung  ausgerichtete Haltung nach Außen, die auf einer Verwandlung im Innen gründet. In seinem Werk finden wir die Überzeugung der jüdischen Mystik am Wirken, dass allem – und selbst den leidvollsten und grausamsten Momenten des Mensch-Seins - ein „göttlicher Funken“ innewohnt. Aufgabe des Menschen ist es, diesen Funken zu entzünden – und ihn auch an den dunklen Orten der Welt zum Leuchten zu bringen.  

Der Wille zur Menschlichkeit

„Wir haben einander geholfen. Die Solidarität hat eine große Rolle gespielt. Der Halt, den wir einander gegeben haben, hat uns zum Weiterleben gebracht“, so Esther Bejarano über ihre Zeit in Auschwitz. Es sind die vielen Gesten der Unterstützung und Kooperation, die einen in den Erzählungen der Überlebenden aufhorchen lassen. In ihnen enthüllt sich der unzerstörbare Wille zur Menschlichkeit selbst unter unmenschlichen Bedingungen. „Das Aufrechterhalten der Würde, die unzähligen kleinen Gesten des Helfens und Teilens und das Überleben selbst waren in den Todeslagern die kollektivste Form des Widerstands gegen unsagbares Grauen“, so der 88-jährige Psychoanalytiker Arno Grün, der dem Holocaust durch die Emigration nach New York entkam. Diese Gesten legen Zeugnis davon ab, dass der Mensch, selbst wenn er an seine äußersten Grenzen gezwungen wird, immer noch das Wissen seiner letztendlichen Freiheit bewahren kann. Darin erblickte der Auschwitz-Überlebende und große Humanist Viktor Frankl den unzerstörbaren Kern des Mensch-Seins. In seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ schreibt er: „Der Mensch kann sich auch im KZ dafür entscheiden, ein Mensch zu bleiben und die Menschenwürde zu bewahren.“ 1

Die Botschaft der Überlebenden

Die Reihen der Zeitzeugen des Holocaust lichten sich. Die Überlebenden wissen um die Dringlichkeit, ihr Vermächtnis an die nächsten Generatio-nen weiterzugeben. Es ist kein leichtes Vermächtnis. Und doch birgt es einen einzigartigen Schatz an Weisheit und Mitmenschlichkeit in sich. Es ist an der Zeit und buchstäblich die letzte Gelegenheit, diesen Schatz zu bergen. Denn niemand kann uns mehr lehren über die Widerstandskraft des Menschen und seine Bereitschaft zu Mitmenschlichkeit und Mitgefühl selbst unter schwierigsten Voraussetzungen. Sie sind es, die uns aufgrund ihrer Erfahrungen einen Weg weisen, wie wir selbst und nachfolgende Generationen mit leidvollen und uns überwältigenden Lebens-situationen umgehen können. 

Nein, es ist kein leichtes Erinnern, dem diese drei Menschen sich aussetzen. Und doch lässt die ungebrochene, mitunter erst nach vielen schweren Jahren wiedererlangte Lebensfreude, die sie bis ins hohe Alter auszeichnet, erahnen, dass der Mut zum Erinnern auch eine nicht versiegende Kraftquelle in sich birgt. Nie wieder soll ein Mensch das erleben müssen, was ihnen widerfahren ist. Vor allem wollen sie die Jugend erreichen und deren Widerstandskraft und Zivilcourage stärken. Und so gehen sie an die Schulen, erzählen von ihren Erfahrungen und engagieren sich gegen Faschismus und Fremdenfeindlichkeit. In ihrer Kunst, in Lesungen und Konzerten verleihen sie ihrer ungebrochenen Gestaltungslust und Widerstandskraft Ausdruck. Ihre Botschaft ist klar: Liebe statt Hass, Versöhnung statt Verbitterung. Denn, so Yehuda Bacon: „Wer in der Hölle war, weiß, dass es zum Guten keine Alternative gibt.“

Was kann uns Auschwitz heute lehren

Die 87-jährige Éva Fahidi mit ihrem 91-jährigen Lebensgefährten Andor Fischer, ebenfalls ein Holocaust-Überlebender, in Budapest. (© Christa Spannbauer)

Die grauenerregenden Bilder von Auschwitz haben sich tief in unseres kollektives und persönliches Unbewusstes eingegraben. Zu Recht wurde Auschwitz weltweit zum Mahnmal der Unmenschlichkeit und zu einer Warnung davor, was der Mensch dem Menschen anzutun vermag. Auschwitz ist ein Zeugnis der Menschheitsgeschichte, mit dem sich die jetzigen ebenso wie alle kommenden Generationen auseinander setzen müssen. Wie aber gehen wir mit der Tatsache um, dass viele Menschen gar nicht den Mut finden, dem Grauen von Auschwitz in die Augen zu blicken? Die Bilder sind so erschütternd, dass viele die Augen abwenden und ihr Herz vor Angst und Scham verschließen. Die Leichenberge des Holocaust machten nicht nur das Ausmaß der Grausamkeit seitens der Täter sichtbar, unter ihnen drohte auch die Lebensgeschichte und die Würde des einzelnen Menschen, der hier seinen Tod fand, zu ersticken. Deshalb ist es heute wichtiger denn je, die Lebensgeschichte  jedes Einzelnen zu erzählen, um ihm mit seiner Geschichte sein Gesicht zurückzugeben und seine Würde zu bewahren, die in dem maschinellen Massenmord unterzugehen drohten. 

Bild rechts: Der israelische Maler Yehuda Bacon mit einer Skizzenmappe seiner Zeichnungen in Jerusalem (© Christa Spannbauer)

Wir müssen uns Geschichten erzählen vom Menschsein in Zeiten der Unmenschlichkeit. Geschichten vom Bewahren der Menschenwürde unter unwürdigsten Bedingungen. Und wer könnte dies eindrücklicher tun als die Überlebenden von Auschwitz? Oft bin ich auf junge Menschen getroffen, die sagten: „Oh nein, nicht schon wieder Auschwitz, wir haben schon all die schrecklichen Filme gesehen“, die aber dann, wenn sie Überlebenden persönlich begegnen durften, wie gebannt an ihren Lippen hingen und von deren Lebensgeschichte tief bewegt waren. 

Esther Bejarano, Yehuda Bacon und Éva Fahidi haben Auschwitz überlebt. Sie haben der Unmenschlichkeit ins Auge geblickt – und wurden zu authentischen Lehrern der Menschlichkeit. 

Was es heißt ein Mensch zu sein

Konstantin Wecker und Esther Bejarano bei einem gemeinsamen Auftritt in Hamburg. (© Lisa Günther)

War der Angriff auf die Menschlichkeit, der in Auschwitz stattfand, erfolgreich? Mit dieser Frage hatten wir unsere filmische Spurensuche vor zwei Jahren begonnen. Mehr denn je bin ich heute davon überzeugt, dass die Unmenschlichkeit nicht gesiegt hat. Würden wir dies glauben, hätte das Terrorregime des Dritten Reichs letztlich doch den Sieg davongetragen. Schließlich war es erklärtes Ziel der Nationalsozialisten, die Menschlichkeit und Menschenwürde in den Konzentrationslagern zu zertrümmern. Diese drei alten Menschen, die ich auf ihren Wegen begleiten durfte, haben mich Vieles gelehrt. Und vor allem haben sie mir gezeigt, dass es neben dem unermesslichen Leiden des Holocaust auch noch etwas Anderes, Einzigartiges und Kostbares gibt: den Triumph der Menschlichkeit über die Unmenschlichkeit, der sich in ihrem unzerstörbaren Glauben an das Gute im Menschen kundtut. 

Die Autorin

Christa Spannbauer, (M.A.) phil. lebt als freie Journalistin, Autorin und Filmemacherin in Berlin. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft in Würzburg und Dublin. Ihr besonderes Interesse gilt der Verbindung von neuen Wissenschaftserkenntnissen mit den alten Weisheitslehren aus West und Ost.
www.christa-spannbauer.de

Fußnote

1 Viktor Frankl: „...trotzdem ja zum Leben sagen.“, Kösel Verlag (4. Auflage), München 2009, Wien 1946

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