Die Herzlandtheorie ist das wohl berühmteste Beispiel einer umfassenden Geostrategie. Im Kern besagt sie, dass die Kontrolle über Eurasien der Schlüssel zur globalen Dominanz sei. Der Psychologe und Buchautor Dr. Jonas Tögel erläutert im Interview dieses geografische Konzept im Hinblick auf moderne Sicherheitsstrategien und aktuelle Expansionsbestrebungen.
raum&zeit: Was ist die Herzlandtheorie?
Dr. Jonas Tögel: Die sogenannte Herzlandtheorie ist eine der ersten modernen, geostrategischen Theorien. Sie geht auf einen Vortrag des Geografen Sir Halford John Mackinder im Jahr 1904 vor der britischen Königlichen Geografischen Gesellschaft zurück. Mackinder geht es darum, das große Machtpotenzial des riesigen eurasischen Kontinents zu beleuchten, der damals gerade von Eisenbahnen erschlossen wurde und somit zu einem möglichen Konkurrenten des britischen Imperiums, das stark von seiner überlegenen Seemacht abhängig war, heranwuchs.
Für den Geographen war Eurasien, zugespitzt formuliert, der Schlüssel zur Weltherrschaft. Auch die Verbindung von Deutschland und Russland kommt bei Mackinder bereits zur Sprache, und er warnt vor einem Bündnis zwischen den beiden Ländern, die ein Weltimperium hervorbringen und damit das British Empire direkt herausfordern könnte. Nach der Definition der Geographen gehört Deutschland streng genommen nicht zum Herzland . Dennoch ist es in Europa so zentral gelegen, dass ihm bei der Frage nach der Kontrolle über das Herzland eine große Bedeutung zukommt: Die Neuordnung des Gleichgewichts der Kräfte zugunsten des Drehpunktstaates [oder Herzlandes], die seine Expansion über die am Rande gelegenen Staaten Eurasiens zur Folge hätte, würde den Einsatz seiner ungeheuren kontinentalen Ressourcen zum Flottenbau ermöglichen und ein Weltimperium hervorbringen. Dazu könnte es beispielsweise kommen, sollte Deutschland ein Bündnis mit Russland eingehen.“?1
r&z:Warum sollte man sich Ihrer Meinung nach damit beschäftigen?
Schlüssel zur Weltherrschaft
Dr. J. T.: Mackinders Ausführungen sind zwar schon alt und es gab damals auch konkurrierende, geostrategische Analysen, beispielsweise solche, die den Vorrang der Seemacht betonten. Die Überzeugung, dass das eurasische Herzland den Schlüssel zur Weltherrschaft darstellt und eine Verbindung zwischen Deutschland und Russland vom jeweiligen Imperium unter allen Umständen zu verhindern ist, hat sich jedoch durchgesetzt und besitzt bis heute Gültigkeit. Auch die ursprüngliche Herzlandtheorie ist aktuell ein Teil der militärischen Ausbildung in den USA.
Einen besonders eindrücklichen Beleg für eine Art Neuinterpretation der Herzlandtheorie lieferte der vielzitierte Geostratege und Gründer der Denkfabrik Stratfor, George Friedman, auf einem Vortrag im Jahr 2015: Das Hauptinteresse der USA, für das wir seit Jahrhunderten Kriege geführt haben, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, weil sie gemeinsam die einzige Macht sind, die uns bedrohen könnte, und um sicherzustellen, dass das nicht passiert. [ ] Das ist der Punkt: die USA können Eurasien nicht besetzen. [ ] Was wir jedoch tun können, ist zunächst unterschiedliche, miteinander konkurrierende Mächte zu unterstützen, sodass sie mit sich selbst beschäftigt sind. ?2
Friedman schlägt sogar vor, kleine Kriege anzuzetteln, um die einzelnen Parteien auf dem eurasischen Kontinent zu destabilisieren. Die Herzlandtheorie (HT) stellt folglich immer noch eine maßgebliche Richtlinie amerikanischer Außenpolitik dar.