Eine App für unsere Demokratie

Vom bundesweiten Volksentscheid bis Liquid Democracy

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© DEMOCRACY Deutschland e. V.

Es herrscht – nicht nur aktuell in der Corona-Krise – eine gefährliche Asymmetrie in unserer Gesellschaft. Das Parlament vertritt nur zehn Prozent der Bürger. Die öffentlich-rechtlichen Medien vermitteln in erster Linie die Sicht der Regierenden. Mit den Kreuzen, die wir a...
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Eine App für unsere Demokratie
raum&zeit-Interview mit Marius Krüger, Berlin, von Angelika Fischer, Wolfratshausen

Es herrscht – nicht nur aktuell in der Corona-Krise – eine gefährliche Asymmetrie in unserer Gesellschaft. Das Parlament vertritt nur zehn Prozent der Bürger. Die öffentlich-rechtlichen Medien vermitteln in erster Linie die Sicht der Regierenden. Mit den Kreuzen, die wir alle vier Jahre machen dürfen, können wir das politische Geschehen kaum mitbestimmen. Viele Menschen haben resigniert oder sich einlullen lassen. Die Democracy App kann unsere Demokratie effektiv wiederbeleben!

raum&zeit: Viele Menschen haben den Eindruck, dass in der Corona-Krise wichtige demokratische Prinzipien verloren gegangen sind. Auch Abgeordnete des Bundestages waren beunruhigt und brachten entsprechende Gesetzesvorschläge ein, zum Beispiel für mehr freien Journalismus und mehr Rechtsstaat. Mit der von Ihnen entwickelten Democracy App hatte man einen guten Einblick in die Abläufe auf der Ebene des Bundestages, also des Parlamentes. Welches Bild auf unsere Demokratie bot sich hier?
Marius Krüger: Es ist ja so, dass wir in einer repräsentativen, sogenannten parlamentarischen Demokratie leben und erstaunlicher Weise war sogar das Parlament langa Zeit zu großen Teilen nicht in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Das bedeutet, dass selbst die Parlamentarier durch die Anträge, die Sie eben genannt hatten, nur einen minimalen Einfluss im Sinne von Antragsinitiativen hatten. Letztendlich wurde nur das in den Parlamenten – als verlängerter Arm der Regierung – beschlossen, was in den Kabinettssitzungen des Bundes und der Länder vorgegeben wurde. Hier hat sich also schon ein demokratischer Ausnahmezustand ergeben. Es wurde nur noch auf Basis von Verordnungen regiert und es bestand gar keine parlamentarische Legitimation mehr. Die parlamentarische Legitimation wurde sich dann nachträglich mit der ersten und zweiten Änderung des Infektionsschutzgesetzes besorgt. Das heißt, in der Coronakrise wurde unser demokratisches System – bei dem man sich ohnehin schon fragen kann, wie demokratisch es ist – übergangen.

Mehr Transparenz

r&z: Spätestens jetzt zeigt sich also, dass wir dringend eine Verbesserung unseres demokratischen Systems bräuchten! Könnte die Democracy App hierbei ein wichtiger Schritt sein? Mit ihr können wir immerhin schon mal die Ebene des Parlamentes transparent machen und diese auch eventuell beeinflussen.
M. K.: So ist es. Grundsätzlich sind die Möglichkeiten der App, die wir gebaut haben, so: Man kann alle parlamentarischen Beschlüsse auf seinem Handy verfolgen als wäre man Abgeordneter. Das bedeutet, wir haben in der App alle Gesetze und Anträge, die auch den Parlamentariern in naher Zukunft zur Abstimmung stehen, sowie auch die, die in der Vergangenheit gelaufen sind; dazu alle Informationen, die auch Parlamentariern zur Verfügung stehen wie Ausschussprotokolle oder Originalgesetzestexte mit einer inhaltlichen Zusammenfassung und so weiter. Die App gibt also Einblick in die Arbeit des eigenen Gesetzgebers, des Parlamentes, denn de facto ist ja das Parlament für uns Bürger die einzige Möglichkeit, unsere Volksherrschaft auszüben, das heißt politischen Einfluss zu nehmen über unsere Vertreter. Und insofern ist es interessant zu schauen, was dort beschlossen wird, von wem und mit welcher Mehrheit.
Zusätzlich bietet unsere App noch die Möglichkeit, als App-Nutzer selbst zu den Vorgängen abzustimmen. Dies halten wir für sehr wichtig, weil wir die Gesamtrepräsentativität der politischen Entscheidungen in Frage stellen.

r&z: Sie gehen davon aus, dass die politischen Entscheidungen nicht wirklich die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren?
M. K.: Ja, und wir untermauern diese Unterstellung mit einer Statistik der Bundesregierung, die zeigt, dass die Entscheidungen, die im Bundestag getroffen werden, nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind, sondern nur für die oberen 10 Prozent in der Einkommensskala. Das bedeutet, dass wir zwar dem Namen nach in einer Demokratie leben, aber was an Gesetzen und Anträgen beschlossen wird, dient nur 10 Prozent der Bevölkerung. Wenn man sich an der Urdefinition von Demokratie orientiert, könnte man sich im absoluten Gegensatz dazu eigentlich vorstellen, dass Entscheidungen, die nur einer so kleinen Gruppe dienen, überhaupt nicht zustande kommen. Unser Bundestag ist aber selektiv repräsentativ. Diejenigen, die hier sitzen, haben eigene Interessen, fühlen sich einer bestimmten Klasse zugehörig und entscheiden in diesem Sinne.

Politik für die Einkommensstärksten

r&z: Was ist das für eine Studie, auf die Sie sich beziehen und die diese Inkongruenz nachweist?
M. K.: Interessanter Weise war es keine nichtstaatliche Institution, die dies herausgefunden hat, sondern das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es hatte 2016 eine Forschungsstudie zu der Frage „Wie repräsentativ ist die Politik?“ bei dem Politologen Prof. Schäfer der Uni Osnabrück in Auftrag gegeben. Diese zeigte, dass die Politik in Deutschland über die letzten vier Legislaturperioden ausschließlich die oberen 10 Prozent repräsentierte. Man bemerke, in den letzten vier Legislaturperioden waren drei verschiedene Regierungskonstellationen am Werk, von Rot/Grün, der großen Koalition über Schwarz/Gelb bis hin wieder zur großen Koalition und es gibt keine signifikante statistische Abweichung von dem Ergebnis. Das bedeutet, dass unser politisches System uns Auswahlmöglichkeiten lediglich suggeriert.
Aus meiner Perspektive ist es äußerst notwendig, diese Erkenntnis in die öffentliche Debatte einzubringen, denn bisher misstrauen nur sehr wenige Menschen dem Parlament.

r&z: Inwiefern kann die Democracy App an dieser Schieflage etwas ändern?
M. K.: Sie eröffnet auf jeden Fall einen Blick für die gegenwärtige Situation, zum einen über den Einblick in den Bundestag und dann über den Vergleich zwischen den Entscheidungen des Bundestages und denjenigen der App-Nutzer. Jeder kann über die App selbst zu den Gesetzen abstimmen, zum Beispiel zum ersten und zweiten Gesetz der Änderung des Infektionsschutzes. Wir fassen die einzelnen Stimmen dann zusammen, sodass jeweils das Gesamt-Ergebnis der App-Community zu sehen ist sowie auch die Community-Ergebnisse bezogen auf die einzelnen Wahlkreise. Am Ende kann man die Kuchendiagramme dann vergleichen mit den offiziellen Ergebnissen und sieht die Differenzen.

Differenzen bei der Änderung der Infektionsschutzgesetze

r&z: Können Sie am Beispiel der Infektionsschutzgesetzänderungen erläutern, wie jeweils die Ergebnisse waren?
M. K.: Beim ersten Gesetz, das wurde am 25.3.2020 beschlossen, ging es um die Einschränkungen der Grundrechte im Sinne von Einschränkungen der Versammlungs- und Reisefreiheit und so weiter. Interessanterweise war das ein Gesetz, das wenig durch die Medien gegangen ist, es gab wenig Aufmerksamkeit für dieses Gesetz. Unsere Community hat mit 1 323 Abstimmenden zu 76 Prozent dagegen votiert, während der Bundestag in Form von allen Fraktionen außer der Linken, die sich enthalten hat, dafür gestimmt hat. Wir haben mit 1 323 Abstimmenden natürlich eine relativ kleine Stichprobe in diesem Fall.
Das zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage wurde mehr von den Medien aufgegriffen. Es ging um die Einführung des Immunitätsnachweises, der dann kurzzeitig im Gesetzestext zu finden war, schlussendlich aber doch wieder rausgenommen wurde bzw. es ist noch nicht so richtig klar, ob er nicht doch über ein Hintertürchen drinnen ist.
Bei diesem zweiten Gesetz ist die Stichprobe über unsere App ein bisschen größer. Da haben 12 281 mitgemacht und zu 97 Prozent dagegen votiert, während im Bundestag das Gesetz mit knapper Mehrheit durch Union und SPD beschlossen wurde; die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt bis auf die Grünen, die sich enthalten haben. Jetzt muss man dazu sagen, wir machen für unsere App keine Repräsentativitätsüberprüfungen. Das bedeutet, entweder haben wir unglaublich viele Coronakrisen-kritische Menschen in unserer App, die sich ohnehin von der Regierungsarbeit ein bisschen abgehängt fühlen und dementsprechend die App nutzen, was ich für sehr wahrscheinlich halte. Oder es ist tatsächlich eine breite Mehrheit, die diese Maßnahmen ablehnt, was man aber so anhand der Fernsehumfragen, die gemacht wurden, nicht hundertprozentig bestätigen kann. Das heißt, auch wir müssen sagen, in unserer App ist vermutlich ein verzerrtes Ergebnis zustande gekommen.

r&z: Die App verbindet wunderbar den modernen Zeitgeist mit politischem Bewusstsein. Sie macht es möglich, schnell an interessante Informationen zu kommen. Sie hat einen spielerischen Charakter, sodass es richtig Spaß macht, „Abgeordneter zu spielen“, seine eigene Stimme abzugeben, die durchaus auch ein gewisses Gewicht hat. Man könnte denken, dass sich viele Menschen für sie begeistern. Ist das der Fall?
M. K.: Seit Start der App 2016 kletterte die Anzahl der Nutzer auf 210 000. Im Verhältnis zu den 82 Millionen Menschen in Deutschland ist die Akzeptanz natürlich gering. Aber wenn man die 82 Millionen reduziert auf 15 Millionen potenziell Politikinteressierte, dann ist die Durchdringung schon nicht so schlecht.

Eine App die zum Nachdenken bringt

r&z: Könnte es sein, dass ein Grund dafür, dass die App noch keine breitere Nutzung gefunden hat, darin liegt, dass viele Menschen durch Resignation apolitisch geworden sind und sich aus dem Geschehen heraushalten? Und könnte sich nicht genau das durch die App ändern, weil die Menschen plötzlich spüren, dass sie wichtig für die Demokratie sind?
M. K.: Absolut, das ist genau der entscheidende Punkt: Die Wirkung, die diese Applikation auf jeden einzelnen Nutzer hat. Es gibt hierbei verschiedene Typen von Nutzern.
Es gibt den Typus, der alles, was im Parlament passiert, als gerecht empfindet und der das Gefühl hat, dass wir im Westen in einer gut organisierten parlamentarischen Demokratie leben, der seine favorisierte Partei hat und der diese seit über zwanzig Jahren wählt. Dieser Mensch beschäftigt sich mit der App, macht ein paar Abstimmungen und stellt plötzlich fest, dass gar nicht seine favorisierte Partei ihn am besten repräsentiert, sondern womöglich eine weiter links oder rechts stehende kleinere Partei. Dies und die Erkenntnis, dass die Community und der Bundestag oft invers zueinander stehen, wird bei ihm eine kognitive Dissonanz auslösen. Er muss dann erst mal darüber nachdenken, wie er weiter vorgeht.
Weiterhin gibt es Nutzertypen, die sich schon so intensiv damit beschäftigt haben, dass für sie keine der im Bundestag aktiven Parteien in irgendeiner Form eine große Übereinstimmung für sie bietet, die aber verstanden haben: „Ah, wir können das als digitalen Volksentscheid nutzen!“ Das heißt, wir können per Klick den Volksentscheid einführen.

Der Weg zum Volksentscheid

r&z: Im Moment gibt es ja leider noch keinen bundesweiten Volksentscheid. Der Verein „Mehr Demokratie“ macht schon seit Jahrzehnten Werbung dafür, es fehlt aber offensichtlich immer noch an der nötigen Überzeugung der Bevölkerung beziehungsweise an dem nötigen Druck durch sie. Sie denken, die App könnte hier den Funken endlich zum Zünden bringen?
M. K.: Die Nutzer der App können zwar noch keine eigene Initiative starten, aber sie können über das, was im offiziellen parlamentarischen Prozess passiert, außerparlamentarisch und basisdemokratisch abstimmen. Im Grunde wird damit offensichtlich, es ist möglich, die Bevölkerung über konkrete Dinge abstimmen zu lassen.
Je mehr Menschen die App nutzen, umso eindrücklicher sind natürlich die Erlebnisse, die man damit haben kann. Leider wissen viele Menschen noch gar nicht von dieser App und wir stellen uns natürlich auch die Frage, was dazu führt, dass uns insbesondere die großen Gazetten und die Rundfunkanstalten des öffentlichen Rechts bislang nicht die Reichweite geben wie wir es erwartet hätten. Obwohl wir das unterstützen, was allgemein gut geheißen wird, Demokratie, Bürgerengagement, Bürgerbeteiligung, Stärkung der Digitalisierung, werden wir systematisch aus den Medien abgeschirmt beziehungsweise nicht aufgenommen. Und da zieht man für sich dann doch einige Schlüsse daraus, was das eigentlich bedeutet.

Demokratiefeindliche Medien

r&z: Was denken Sie, warum die großen Medien so ausweichend auf Ihre Erfindung reagieren?
M. K.: Vielleicht muss ich an dieser Stelle mein Grundverständnis von Medien artikulieren und damit die Frage beantworten – und das sage ich jetzt als Privatperson. Wir haben in Deutschland eine besondere Situation mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der vom Grundansinnen her dem journalistischen Paradigma am allerbesten begegnen könnte. Das journalistische Paradigma ist, dass man nicht immer zur selben Zeit am selben Ort sein kann. Man ist darauf angewiesen, dass man anderen Menschen vertrauen muss, wie sich bestimmte Dinge ereignet haben in der Welt. Und diese Informationsasymmetrie wird quasi durch Journalismus abgebaut. Das heißt, wenn man das mal für eine Demokratie denkt, müssten Journalisten, die man ja die vierte Gewalt im Staat nennt, daran interessiert sein, die Informationsasymmetrie, die zwischen den Regierenden und den Regierten besteht, abzubauen. Es müsste eigentlich so sein, dass die Journalisten die ganze Zeit bei den Regierenden nachfragen: Warum hast du diese Entscheidung getroffen? Wäre nicht diese Entscheidung besser? Warum ist dieses Detail im Gesetz? Nur in einem so gearteten Mediensystem ist Kontrolle durch die Bevölkerung – das ist das Urwesen der Staatstheorie – möglich.

r&z: In so einem System wären die Medien froh, Ihre App vorstellen zu können, die ja hilft, diese Informationsasymmetrie abzubauen.
M. K.: Ja, und für mich persönlich könnte ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der durch Abgaben finanziert wird, eine extrem gute Möglichkeit bieten, als Bürgermedium zu fungieren. Das Problem ist aber, dass die Rundfunkräte, das heißt die Gremien, die für die Unabhängigkeit des öffentlichen Rundfunks sorgen sollten, besetzt sind mit Managern, Politikern und hohen Verwaltungsangestellten, das heißt genau von denjenigen Personen, die prinzipiell schon mehr Macht und Informationen haben als die Bürger. Und damit funktioniert der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht so, wie er eigentlich laut Staatsvertrag funktionieren sollte. Er wirkt nicht von unten nach oben kontrollierend, sondern von oben nach unten. Im ganzen Satz: Diejenigen, die in den Rundfunkräten sitzen, bestimmen die Narrative und die öffentlich-rechtlichen Medien weisen eine erstaunliche Homogenität auf, was das Wiedergeben von Regierungsinhalten anbelangt. Man hat eher das Gefühl, Regierungsinhalte werden einfach wiedergegeben, didaktisch reduziert, verständlich gemacht, im Zweifel auch mit Angst eingebläut, anstatt dass das kritisch hinterfragt werden würde.

Ich bin nicht alleine

r&z: In unserem derzeitigen System erfüllen also weder die Medien, noch das Parlament ihre demokratischen Aufgaben. Ihre App schafft in gewisser Weise eine Verständigungsmöglichkeit zwischen Bürgern und Politik parallel zu den Medien. Sie kreiert darüber eine Gemeinschaft von politisch interessierten Menschen, in der sich der Einzelne integriert und als relevanter Teil einer Demokratie fühlt. Wie wirkt dieser soziale Aspekt auf den Einzelnen?
M. K.: Wie wichtig das Community-Ergebnis ist, muss man psychologisch vermessen. Es gibt diesen wohlberühmten Spruch: „Ich kann doch sowieso nichts verändern, dachte sich die halbe Menschheit ...“ Dies stand symptomatisch auch für mich, als ich noch dachte, ich sei mit bestimmten Meinungen ziemlich alleine. Aber wenn man dann die Erfahrung macht, dass andere die Dinge ähnlich sehen, stärkt dies das Vertrauen in sich selbst, sodass man sozialem Druck besser gewachsen ist. Dieser Aspekt ist so wahnsinnig ermächtigend, wenn man sieht, 17 000 andere Menschen sehen das zu 97 Prozent genauso wie ich oder auf Wahlkreisebene gibt es 200 Menschen, die einem wie Leuchttürme erscheinen und mit denen man gemeinsam den Wandel gestalten kann.
Und dieses Gefühl von Gemeinschaft wächst natürlich mit der Anzahl der Abstimmenden, wahrscheinlich emotional sogar überproportional. Je mehr Leute dazukommen, desto mehr bekommt man das Gefühl, dass man eine Veränderung schafft, dass es historisch ist, was gerade passiert.

r&z: Man fühlt sich also stark verbunden mit den anderen Community-Mitgliedern, die derselben Meinung sind. Und wie wirkt sich der klarere Blick auf die Abgeordneten des Bundestages psychologisch aus?
M. K.: Das will ich mit einer kleinen Geschichte beantworten, die für mich ein Auslöser war, die App zu erfinden. Ich lief damals durch Berlin und blieb vor einem Wahl-Plakat stehen, auf dem ein Werbeslogan Abrüstung und bessere Bildungspolitik versprach. Ich dachte: Krass, endlich hat mal jemand die Probleme unserer Zeit erkannt. Wir geben 60 Milliarden für Rüstungsgüter aus und 13 Milliarden für Bildung. Den Politiker möchte ich unterstützen. Ich bin dann nach Hause gegangen und hab einfach mal recherchiert, wie der betreffende Politiker in der vergangenen Periode zu den Vorhaben, die mit Auf- oder Abrüstung zu tun hatten, gestimmt hat, und habe festgestellt, dass er genau das Gegenteil gemacht hat. Er hat für Aufrüstung und Kriegseinsätze gestimmt, aber verspricht jetzt zur neuen Periode Abrüstung. Wie glaubhaft ist dann sein jetziges Versprechen?
Die Recherchearbeit, die ich damals zu diesem Einzelkandidaten gemacht habe, werden einem jetzt von der App abgenommen. Wir haben hierfür als eigenes Unterprodukt der App den Wahl-O-Meter geschaffen. Wenn man regelmäßig zu den Dingen abstimmt, die einem wichtig sind, bekommt man am Ende gezeigt, welcher Kandidat mit der eigenen Meinung am meisten übereinstimmt. Damit kann man die Wahlentscheidung für den einen oder anderen Abgeordneten so bewusst wie möglich treffen.

In den Dialog kommen

r&z: Ist es über die App auch möglich, in einen Dialog mit den Abgeordneten zu kommen?
M. K.: Ja, wir werden demnächst anbieten, aus der App heraus direkt die Abgeordneten per Mail und Telefon zu kontaktieren, um da mal zum Beispiel nachzufragen: Warum hast du bei einer bestimmten Abstimmung dieses Ergebnis für dich gewählt? Wenn der Abgeordnete beziehungsweise politisch Amtierende wahrnimmt, dass eine größere Anzahl von Personen unserer außerparlamentarischen Community, wir nennen das auch Bürgerlobby, ihn beobachtet beziehungsweise zur Rede stellt, kann daraus durchaus ein Dialog entstehen.

Fernziel Liquid Democracy

r&z: Wäre es auch möglich über die App in Richtung Liquid Democracy zu kommen? Das heißt, könnten die Bürger mithilfe der neuen digitalen Möglichkeiten so sehr in die parlamentarischen Abläufe eingebunden werden, dass sie nicht erst umständlich einen Volksentscheid auf den Weg bringen müssen, sondern dass sie direkt bei einer Sachfrage mitentscheiden können? Sie könnten dabei entweder ganz eigenständig entscheiden oder einen Abgeordneten auswählen, dessen Entscheidung sie übernehmen?
M. K.: Für mich ist Liquid Democracy das erhabenste demokratische Konzept der Gegenwart und wahrscheinlich auch der Zukunft. Fraglich ist, ob es jemals seine reale Anwendung finden wird. Ich glaube, dass es – Stand jetzt – unmöglich ist, dieses System von heute auf morgen einzuführen, weil die ideologischen Grenzen in den Köpfen der jetzigen Amtsanwärter und auch der Menschen generell viel zu groß sind als dass man diesen Riesenschritt machen könnte. Ich glaube auch, dass dafür noch einige Voraussetzungen zu schaffen sind, zum Beispiel die vollständige Datentransparenz, dass jeder Bürger zu jeder Zeit in jeden Ausschuss, in jedes Protokoll, in jede Argumentation Einsicht nehmen kann. Diese Situation herrscht ja de facto gerade nicht. Es wird zwar gesagt, auf verschiedenen Seiten des Bundestages veröffentlichen wir das, aber keiner hat den Überblick und keiner versteht die Zusammenhänge. Von daher sind wir alleine, was die Transparenz, was die Öffnung des Parlamentes angeht, weit davon entfernt.
Wir haben im Moment juristisch gesehen noch nicht mal die Möglichkeit, auf Bundesebene direkt zu einem Thema abzustimmen. Diesen Schritt will unsere App jetzt einleiten, wir versuchen quasi den rechtlich noch nicht existierenden Volksentscheid de facto einzuführen, damit er dann irgendwann auch rechtlich eingeführt wird. Wir glauben, Recht ist immer deskriptiv. Es bildet das ab, was real existierend ist. Das heißt, es kommt jemand, der verändert Sachen und dann verändert sich das Recht.
Aber ich glaube, auf dem Weg zu Liquid Democracy wird es noch viele Schleifen und Umwege geben. Am Ende ist es die Frage, ob das Konzept jemals realisiert wird.
Nichtsdestotrotz, denke ich, kann die Democracy App erst mal ein Bewusstsein in der Bevölkerung dafür schaffen, dass es auch anders gehen könnte als es jetzt gerade geht. Und die Sprengung der mentalen Ketten ist das Zentrum des Aktivismus, dem man sich meiner Meinung nach verschreiben sollte. Ich glaube, wir sind dabei einen Grundstein zu legen für eine Entwicklung, die möglicherweise hundert Jahre andauert, aber es ist auf jeden Fall ein Grundstein in die Redemokratisierung und Repolitisierung der Gesellschaft.

Von der Idee bis zur Erfindung

2016 kam Marius Krüger die erste Idee zu der App. Das war die Zeit, in der die Freihandelsabkommen beschlossen werden sollten, TTIP, CETA, dann JEFTA. Er hatte das Gefühl, überhaupt nicht ausreichend informiert zu werden und mitentscheiden zu können. Auch bezüglich anderer Themen hatte er sehr stark diesen Eindruck wie zum Beispiel bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Er vermutete starke Differenzen zwischen dem, was die Bevölkerung möchte und dem, was politisch entschieden wird. Da sah er die Notwendigkeit: „Wir müssen jetzt in der Bevölkerung ein Kollektiv formen, eine solidarische Basisbewegung, um unsere Interessen stärker zu vertreten.“ Passend zum Zeitgeist erschien ihm die Erfindung einer App, weil mit ihr die Komponenten von Raum und Zeit, die bisher für eine solidarische Basisbewegung limitierend waren, überwunden werden können. Jeder kann damit von jedem Ort aus und egal zu welchem Zeitpunkt über das Handy die Regierung kontrollieren, kritisieren und inspirieren zu besseren politischen Entscheidungen.
Mithilfe von Crowdfunding entstand so die erste Version der App, die Marius Krüger im Oktober 2018 herausbrachte. Am 1. Tag luden sich 5 000 Leute die kostenlose App herunter. Die Nutzerentwicklung ging dann relativ rasant Richtung 20 000. Da gab es ein gewisses Plateau. Dank eines Interviews auf einem bekannten Youtube-Medium schoss die Zahl dann auf 80 000, hier gab es wieder ein Plateau, bis zu den Anfängen der Corona-Krise, die viele neue Nutzer mobilisierte. Im Moment haben sich 210  000 Menschen die App heruntergeladen. 55 000 von ihnen nutzen sie aktiv. 600 von ihnen spenden regelmäßig Geld zum Weiterbetrieb der Initiative.
Die App wurde mittlerweile zur dritten Version weiterentwickelt. Marius Krüger plant derzeit sich selbst operativ aus dem Projekt zurückzuziehen. Er baut gerade ein neues Team auf, das ebenfalls vollständig unabhängig diese Applikation begleitet, weiterentwickelt und verbreitet. Zur nächsten Bundestagswahl soll die App mit einer richtig großen Kampagne beworben werden.

Democracy App downloaden

Was geschieht nach dem kostenlosen Download der App? Zunächst einmal kann sich der Neueinsteiger eigenständig weitreichend informieren, zum Beispiel über vergangene und geplante Gesetzes-entwürfe. Dann kann er tagesaktuell am Parlamentsgeschehen teilhaben. Das Team von Democracy App stimmt seine Arbeit auf den Rhythmus des Bundestages ab, der jede zweite Woche eine Sitzungswoche hat. Innerhalb dieser Woche kann es dann zu 12 oder auch zu 30 Abstimmungen kommen. Wenn man möchte, kann man hierzu per Push-Nachrichten auf sein Handy informiert werden. Es gibt auch viele persönliche Einstellungsmöglichkeiten. Man kann einstellen, über das jeweils spannendste Thema des Tages informiert zu werden, oder laufend alles zu erfahren oder aber auch nur hin und wieder an eine Teilnahme erinnert zu werden.

Marius Krüger

geb. 1994 in Göttingen, Studium der Betriebswirtschaftslehre, gründete 2017 zusammen mit Freunden und Familienmitgliedern den Verein Democracy Deutschland e. V., über den er die Erfindung der Democracy App auf den Weg brachte.

Die Autorin

Angelika Fischer (M. A.), geb. 1969, Redakteurin bei raum&zeit, hat in München Neuere Deutsche Literaturwissenschaft studiert, ist Physiotherapeutin und Heilpraktikerin (Psychotherapie).

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