Das hautumschlossene Ich

Die wundersame Beziehung zwischen Haut und Transzendenz

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Dass unsere Haut die Barriere zur Außenwelt darstellt, ist ein medizinischer Fakt und entspricht unserer Alltagserfahrung. Über die Haut als „Spiegel der Seele“ wird viel geschrieben, diskutiert und geforscht. Jedoch über die Beziehung zwischen Haut und S...
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Das hautumschlossene Ich
Von Dr. Andreas Stötter Msc., Innsbruck – raum&zeit Newsletter 222/2019

Dass unsere Haut die Barriere zur Außenwelt darstellt, ist ein medizinischer Fakt und entspricht unserer Alltagserfahrung. Über die Haut als „Spiegel der Seele“ wird viel geschrieben, diskutiert und geforscht. Jedoch über die Beziehung zwischen Haut und Spiritualität ist wenig bekannt. Der Autor Dr. Andreas Stötter zeigt diesen wundersamen Zusammenhang auf und weist auf einen neuen Weg zur ureigenen Spiritualität hin, bei dem die Haut eine Schlüsselrolle spielt.

Schlüsselfunktion der Haut

Jeder kennt das Gefühl, sich in der eigenen Haut unwohl zu fühlen und „aus der Haut fahren“ zu wollen. Der Spruch „Man kommt nicht aus seiner Haut“ deutet darauf hin, dass wir in unserer Haut im wahrsten Sinne des Wortes feststecken. Bedeutet dies, dass sich unsere Identität innerhalb der Haut befindet und unser Ich „hautumschlossen“ ist? Innerhalb der Haut bin ich, und außerhalb bin ich nicht? Wenn dem so ist, könnte man durchaus behaupten, dass meine Haut mit meiner Identität, meinem Ich-Empfinden zu tun hat; dass die Ich-Grenze mit meiner Haut-Grenze identisch ist. Wenn mir zum Beispiel jemand zu nahekommt, mir „auf die Pelle rückt“, fühlt sich mein Ich innerhalb meiner Haut bedroht und ich muss „meine Haut in Sicherheit bringen“. Wenn mir etwas „unter die Haut“ geht, fühlt sich das Ich unter meiner Haut berührt, ich werde „durchlässig“ und ich könnte die Welt umarmen, mich über die Haut hinaus ausdehnen. Manchmal Schutzhülle, manchmal Gefängnis. Doch wie sind wir eigentlich da hineingekommen, in diese Hauthülle?
In diesem Artikel geht es um die Frage, welche Schlüsselfunktion die Haut für die Persönlichkeitsentwicklung hat und ob es möglich ist, über sich selbst hinauszuwachsen, die Hautgrenze zu transzendieren und die Erfahrung des Trans-Personalen bzw. der Transzendenz zu machen. Dazu ist es notwendig, tiefer in das Thema Haut einzutauchen und die Zusammenhänge von Haut und Entwicklung in der frühen Lebensphase im Mutterleib zu verstehen.
Schon ganz zu Beginn sind wir ein hautumschlossener Zellhaufen. Zellteilung und Wachstum des Embryos findet innerhalb der Haut statt und sie stellt somit ein Leben lang die Barriere zwischen Innenwelt und Außenwelt dar. Als erstes und frühestes Sinnessystem reagiert die Haut schon ab der siebten Schwangerschaftswoche auf Reize von außen, vom Umfeld.Der Embryo ist dabei ungefähr so groß wie ein Daumennagel und die anderen Sinne sind noch nicht entwickelt. Dieses kleine Wesen schwebt sozusagen in einem schier unendlichen wässrigen Kosmos, in den kein Ton und kein Licht eindringt und die einzige Verbindung zum „Außen“ geschieht durch das wundersame Empfindungssystem der Haut. Das wässrig warme und weiche Milieu in der Gebärmutter ist die erste Kontaktinformation von der Welt außerhalb der Hauthülle und umhüllt das werdende Wesen mit dem basalen und schützenden Umfeld der Gebärmutter. Wie gelangen nun diese Hautreize ins Innere des Embryos?

Die Rolle der Härchen

Die Haut des Embryos ist in dieser frühen Phase übersät mit einem feinen Flaum, den sogenannten Lanugohärchen. Diese Härchen reagieren wie kleine Antennen und registrieren jede feinste Bewegung in der Fruchtblase. Dadurch werden unzählige mit den Härchen verbundene Hautsensoren, auch Tastkörperchen oder Rezeptoren genannt, aktiviert, die die Hautreize in elektrische Impulse umwandeln und über Nervenbahnen zum Gehirn schicken. Zellwachstum und Hirnentwicklung braucht neben ausreichender Nahrung diese Berührungsstimulation, um zu wachsen und sich zu entwickeln. Das Hirn registriert und verarbeitet die ankommenden Tastreize und schickt die Antwort wiederum durch elektrische Impulse über Nervenbahnen an die Peripherie bzw. zu den Gliedmaßen. Diese Reiz-Reaktionsantwort führt zu einer Bewegungsreaktion des Körpers. Durch die ausgelöste Bewegung werden wiederum mit Hilfe der Lanugohärchen die Hautrezeptoren aktiviert und die Reize wieder an das Hirn geschickt. Ein sich selbst organisierender wichtiger Regelkreis für Entwicklung.
Somit wird deutlich, dass die Haut mit ihren Milliarden Tastrezeptoren das erste und wichtigste Organ für die menschliche Entwicklung ist und zeigt die enge und lebenslange Verbindung zwischen Berührung und Bewegung sowie zwischen Haut und Gehirn.
Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass embryonales Wachstum direkt an die Stimulation der Rezeptoren durch die Bewegung der Lanugohärchen gebunden ist.2 Es wird zudem vermutet, dass diese frühe Berührungsstimulation an den Härchen wichtige Hirnregionen erreichen, die die Ausschüttung des Wachstumshormons Oxytocin aktivieren, welches ab der 16. Schwangerschaftswoche im Gehirn des Embryos nachgewiesen werden kann.1 Oxytocin ist nicht nur ein wichtiger Faktor für Wachstum, sondern spielt eine entscheidende Rolle in der emotionalen Entwicklung und ist für eine sichere emotionale Bindung mit der Mutter ausschlaggebend. Diese frühe  und prägende Entwicklung geschieht in dieser Phase allein durch das Tastsinnsystem und ungestört von anderen Sinnesreizen.

Selbstberührungen

 Sobald das werdende kleine Wesen komplexe Bewegungen durchführen und Arme und Beine differenziert voneinander bewegen kann, macht es zielgerichtete Selbstberührungen. Selbstberührungen an Kopf und Gesicht werden besonders oft beobachtet. Erstaunlich ist dabei, dass bei gestressten Müttern besonders viele Selbstberührungen zu sehen sind. Der Embryo reagiert augenscheinlich auf Stress mit einer zielgerichteten beruhigenden Berührung des eigenen Gesichts. So konnte beispielsweise bei rauchenden Müttern besonders viel Selbstberührung beobachtet werden. Man erklärt sich dies so, dass durch die Hautstimulation des Gesichts per Hand bestimmte Nervenimpulse auf kürzestem Weg das Gehirn erreichen und dadurch das vegetative Nervensystem aktiviert wird. Als Folge davon werden körpereigene Substanzen wie Oxytocin ausgeschüttet, die eine Beruhigung des gesamten Organismus herbeiführen. Noch erstaunlicher sind die Befunde von Nadia Reissland3, die zeigen, dass die embryonale Selbstberührung überzufällig mit der linken Hand an der linken Gesichtshälfte durchgeführt wird. Es ist in der Hirnforschung bekannt, dass emotionale Prozesse in der rechten Hirnhälfte verarbeitet werden. Durch Stimulation der linken Gesichtshälfte wird die rechte Hirn-Hemisphäre stimuliert, die für die Steuerung der Emotionen zuständig ist. Dies deutet ein weiteres Mal auf die entscheidende Bedeutung des Berührungssinns für eine gesunde emotionale Entwicklung und die Fähigkeit der Emotionsregulation hin.
Bemerkenswert ist, dass jeder Erwachsene 400 bis 800 Mal am Tag sich selbst berührt und das vorwiegend im Gesicht.4 Da wird gedrückt, gezupft, gerieben, gestreichelt und zwar ohne dass man sich dessen bewusst ist. Besonders in Stresssituationen häufen sich die Selbstberührungen im Gesicht. Es scheint, dass dieses in der Embryonalphase erlernte Verhalten unbewusst ein Leben lang wirkt und eine wichtige regulative Aufgabe hat.

Die inneren Häute

Der Tastsinn hat jedoch noch ein weiteres Wunder auf Lager. Neben den oben erwähnten Hautrezeptoren, die die Reize von außen verarbeiten, gibt es zudem noch unzählige Rezeptoren im Inneren des Körpers. Sie befinden sich fast überall: in den Muskeln, Sehnen, Gelenken, Faszien und Bindegewebe, in der Knochenhaut und sogar in den Wänden der Blutgefäße. Diese Rezeptoren sind spezialisiert auf das Innenleben und informieren in jeder Millisekunde das Hirn über jeglichen Zustand im Inneren des Körpers. Nicht nur jede kleinste Bewegung wird von dem internen Tastsinnsystem registriert, sondern auch die Lage und Position der einzelnen Glieder im Körper. Dass wir jederzeit, auch mit geschlossenen Augen, wissen und fühlen, wo sich unser Körper im Raum befindet, wie lang die Glieder sind, wo vorne und wo hinten und wo oben und unten ist, verdanken wir diesem Teil des Tastsinnsystems, in der Fachsprache Propriozeption genannt. Jede Bewegung, auch schon in der Entwicklungsphase im Mutterleib, erfordert ein zeitlich perfektes Zusammenspiel der Hautrezeptoren und dieser inneren Rezeptoren der Muskulatur, Sehnen, Gelenke und Bindegewebe. Ohne Propriozeption wären zielgerichtete Bewegungen nicht möglich. Wie ständig aktive und aufmerksame Inspektoren überprüfen die inneren Tastrezeptoren jede noch so kleinste Zusandsveränderung und das nicht nur in Bewegung, sondern auch im Ruhezustand. Das bedeutet, dass die Arbeit des inneren Tastsystems ein neuronales Grundrauschen darstellt, ein Dauerüberwachungssystem, welches uns das Empfinden gibt, einen Körper zu haben. Ein unterstützender Teil der Propriozeption ist das Gleichgewichtssystem im Innenohr, welches wesentliche Informationen über die Lage und die Position von Kopf und Körper im Raum liefert und uns die Möglichkeit gibt, in einem perfekten Gleichgewicht mit der Gravitation zu sein.

Körperschema

In dieser Sinfonie der Rezeptoren ermöglicht das Wunder des Tastsinnsystems die Erfahrung eines dreidimensionalen Körpers in einem dreidimensionalen Raum. Erst das Zusammenspiel dieser verschiedenen Bereiche des Tastsinnsystems macht es möglich, Körperwahrnehmung zu entwickeln und stellt somit die Grundlage des Körper-Ichs dar. All die Informationen vom inneren und äußeren Tastsinnsystem, die in der embryonalen Entwicklungsphase in das Gehirn eingespeist werden, hinterlassen eine Landkarte im Gehirn, die den Körper repräsentiert bzw. ein neuronales Abbild davon ist. Dies wird in der Wissenschaft Körperschema genannt und ist die Voraussetzung für das Ich-Bewusstsein, welches immer ein Körperbewusstsein als Fundament hat. Dieses primäre Körper-Ich ist somit das Resultat der Funktion des Tastsinnsystems in der vorgeburtlichen und der nachgeburtlichen Phase. Ohne das Körperschema, welches kontinuierlich von den Milliarden Tastrezeptoren in der Haut und den Tastrezeptoren im Inneren des Körpers aufrechterhalten wird, wären wir körperlose Wesen. Die Selbstwahrnehmung des Körpers wäre schlicht nicht möglich.
Prof. Grunwald vom Haptikinstitut der Medizinischen Fakultät der Universität in Leipzig schreibt dazu: „Die Fähigkeit, den Allgemeinzustand des eigenen Körpers wahrzunehmen, wird als Introzeption bezeichnet. Je nachdem, wie  aufmerksam und unterstützend die nachgeburtliche Umwelt auf den Säugling reagiert, wird das Vermögen der introzeptiven Zustandsanalyse noch weiter ausreifen und sich differenzieren. Die Grundlagen aber werden lange vor dem Eintritt in die Welt als eine der drei Basisdimensionen des Tastsinnsystems – neben der Exterozeption (Außenwahrnehmung) und der Propriozeption (Wahrnehmung der Lage und der Bewegung des Körpers im Raum) – angelegt. Diese drei Grundbausteine des Tastsinnsystems sind nach meiner Auffassung für die biologische Reifung eines körperlichen Selbst und eines Ichbewusstseins verantwortlich.“

Störungen des Körper Ichs

Leidet dieses Berührungssystem in seiner frühen Entwicklung, zum Beispiel durch Stress oder Trauma, hat dies schwerwiegende Folgen für das gesamte Leben. So ist etwa die Magersucht junger Mädchen und Frauen eine Körperschemastörung. Bei dieser schwerwiegenden Krankheit haben die Patienten ein verzerrtes Bild von sich selbst und eine falsche Verarbeitung von den Reizen des Tastsinnsystems. So sehen sich diese jungen Menschen als dick, auch wenn sie objektiv abgemagert sind. Die Studien zur Magersucht, die von Prof. Grunwald durchgeführt wurden, belegen den Zusammenhang zwischen verzerrter Körperwahrnehmung und eingeschränktem Tastsinn.5
Ein weiterer Hinweis für die ausschlaggebende Wichtigkeit des Tastsinnsystems, speziell zur Propriozeption, geben uns Menschen, die einen Schlaganfall erleiden. Besonders wenn es die rechte Hirnhälfte, im speziellen eine Zone im rechten Scheitellappen des Gehirns betrifft. Das Verwunderliche dabei ist, dass dabei die linke Körperhälfte völlig verschwunden ist.
Die Zone im rechten Scheitellappen des Gehirns, in der das Körperschema der linken Körperhälfte abgelegt ist1, ist durch den Gefäßverschluss bei einem Schlaganfall ausgefallen. Somit ist die Wahrnehmung der linken Körperhälfte nicht möglich. Obwohl die linke Hälfte nicht gelähmt ist und der Patient durchaus in der Lage ist die linke Seite zu bewegen, hat er trotzdem keinen Bezug zur linken Hälfte. Ist die Körper-Landkarte im Gehirn ausgeschaltet, ist der Körper nicht mehr da. Dies ist für Nicht-Betroffene unvorstellbar und trotzdem gibt es auch spezielle seltene Krankheiten, bei denen das gesamte Tastsinnsystem ausfällt und dabei der gesamte Körper für den betroffenen Menschen nicht mehr da ist. Nur durch das visuelle System können solche Menschen überleben. Doch wenn es dunkel ist und somit die visuelle Kontrolle ausfällt, haben diese Menschen das Gefühl, dass sie im grenzenlosen All schweben, ohne Körper und ohne Bezugspunkt. Dies führt in den meisten Fällen zu starken Panikattacken.

Haut Ich Entgrenzung

Es gibt verschiedene Aspekte und Facetten von den beschriebenen Entgrenzungserfahrungen. Im Groben kann man solche Zustände in zwei Kategorien einteilen: solche, die mit Leiden und mit Gefühlen von Angst und Hilflosigkeit verbunden sind, und solche, die mit Gefühlen von Freiheit, Glück und Ekstase einhergehen. Die zweite Kategorie der Erfahrungen werden als mystische, transpersonale oder transzendente Zustände bezeichnet oder als Erfahrungen der Einheit oder Grenzenlosigkeit. Es sind Zustände, die eine Auflösung des hautumschlossenen Ichs darstellen.
Die Entgrenzungserfahrungen, die mit Leiden einhergehen, finden wir neben Hirnerkrankungen oder Erkrankungen des Nervensystems auch bei Menschen, die ein  schweres Trauma erlebten. Betroffene berichten, dass sie während des Geschehens aus dem Körper austreten und sozusagen die Szenen von außen oder oben neutral betrachten. In der Trauma-Forschung spricht man bei solchen Schockreaktionen von Bewältigungsstrategien oder Abspaltungsreaktionen, die das Überleben garantieren sollen oder zumindest das Leiden leichter ertragen lassen. Wenn ich nicht mehr im Körper bin bzw. nicht mehr mit ihm identifiziert bin, dann ist das Leid leichter auszuhalten. Die Tendenz, den Körper zu verlassen und in anderen Gefilden zu verschwinden, ist oftmals eine Flucht vieler Menschen, die sich mit spirituellen Dingen beschäftigen, und deutet auf ein eventuell erlebtes Trauma hin.
Auch bestimmte psychedelische Drogen können zu einer Entgrenzungserfahrung führen. Dies kann entweder ein Horrortrip oder eine Einheitserfahrung sein. Die psychoaktiven Substanzen solcher Drogen greifen massiv in den Hirnstoffwechsel ein und führen allem Anschein nach zu einer Veränderung der Propriozeption und der Körperschema-Landkarte im Gehirn.
Einen besonders interessanten Fall von Ich-Entgrenzung beschreibt Dr. Jill Taylor6, eine amerikanische Hirnforscherin, die selbst einen Schlaganfall erlitt und in beeindruckender Weise ihre Erfahrungen im Nachhinein schildert. Der Schlaganfall schädigte ihre linke Hirnhälfte. Die linke Hirnhälfte ist laut Forschung für Struktur, Details, dem Erkennen von Grenzen und für Analyse zuständig. Diese Fähigkeiten standen Dr. Taylor somit nur noch eingeschränkt zu Verfügung und sie beschreibt, wie sie und ihr Umfeld nicht mehr unterscheidbar waren und sie mit Allem verschmolz. Dies ging mit einem Gefühl von tiefem Frieden und Ekstase einher sowie mit einem Einssein mit dem gesamten Universum. Im nächsten Moment wurden jedoch die restlichen Funktionen der linken analytischen Hirnhälfte wieder aktiv und eine unbeschreibliche Panik überfiel sie: „Mein Gott, ich habe einen Schlaganfall, ich muss sofort Hilfe holen”, und im darauffolgenden Moment übernahm wieder die rechte Hirnhälfte und erneut wurde sie überschwemmt von diesem ozeanischen Gefühl des Einsseins. Sie spricht sogar davon, dass sie dabei im Nirvana war. Es ist schon erstaunlich, wie eine bis dahin knallharte analytische Wissenschaftlerin nun eine Sprache benutzt, wie sie Mystiker, Schamanen und Weisheitslehrer bei der Beschreibung ihrer Einheitserfahrung schon immer verwenden.
Es war Ende der 1990er-Jahre, als die Amerikanerin Suzanne Segal7 an einer Bushaltestelle in Paris unerwartet und unvorbereitet auf einen Schlag ihr Ich verlor und es auf Nimmerwiedersehen verschwand. Sie beschreibt, wie ihr Körper ganz normal weiter funktionierte, jedoch fand sich niemand mehr, der in Bezug zu ihrem Körper stand – ein Ich-loser Körper! Ähnlich beeindruckend wie Dr. Jill Taylor beschreibt sie das Einssein mit Allem was ist, ohne ein Erleben von Grenzen. Nicht wissend was mit ihr passiert war und ohne jegliche zufriedenstellende Erklärung seitens der Medizin wurde sie letztendlich von einem Weisheitslehrer aufgeklärt, dass dieser Ich-lose Zustand dem Zustand der Erleuchtung entspräche. Jahre später entdeckte man bei ihr einen Hirntumor im Scheitellappen. Der Tumor hatte offensichtlich die Zone des Körperschemas befallen und somit war die Wahrnehmung des Körpers mit seinen klar definierten Grenzen und der Bezug zum Körper verschwunden.
Seit jeher berichten Menschen, die intensiv meditieren, von Entgrenzungserfahrungen und von Verschmelzungen mit dem Umfeld. Solche zutiefst erhabenen und erfüllenden Erfahrungen werden manchmal auch als Gotteserfahrungen bezeichnet und werden auch als ein Nachhausekommen zum ureigenen wahren Selbst oder als das Ende des langen leidvollen Weges der menschlichen Suche nach Glück beschrieben. In den westlichen Mysterienschulen spricht man von der „Unio Mystica“, der mystischen Vereinigung mit dem Göttlichen.
Prof. Andrew Newberg8, ein renommierter Hirnforscher aus den USA, hat es sich zur Aufgabe gemacht,  solche Gotteserfahrungen mit den wissenschaftlichen Werkzeugen der Hirnforschung zu untersuchen. Die Ergebnisse seiner Studien, die er mit meditierenden Menschen, tibetischen Mönchen und betenden Franziskanernonnen durchführte, zeigen einen beeindruckenden Zusammenhang zwischen diesen Grenzenloserfahrungen und bestimmten Hirnfunktionen. Er identifizierte bestimmte Hirnbereiche, die bei ihrer Veränderung, sei es durch Krankheit oder durch Training wie Meditation oder einer Achtsamkeitsschulung, solche Gotteserfahrungen herbeiführen können.
All diese Fallbeschreibungen und Forschungen zeigen einen wesentlichen Zusammenhang zwischen außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen und der Hirnfunktion.

Neurotransmitter und Hormone

Welche biochemischen und bioelektrischen Faktoren im Hirn des Menschen können zu solchen transzendenten Erfahrungen führen? Und welche Rolle spielt dabei das Tastsinnsystem?
Zurück zum Oxytocin. Dieses sogenannte Bindungshormon ist ein wahres Glückshormon. Es wird bei liebevollem Sex, beim Stillen und besonders auch bei sanfter mitfühlender Berührung in die Blutbahn ausgeschüttet und entfaltet im gesamten Organismus seine beruhigende und heilende Wirkung. Dabei werden sehr komplexe und komplizierte Wirkmechanismen ausgelöst. Für unser Thema Haut und Transzendenz ist folgender Mechanismus interessant: Oxytocin reduziert die Wirkung des Stresshormons Cortisolund fährt die Aktivität der Amygdala herunter. Die Amygdala ist ein entscheidendes Überlebenszentrum im Hirn, in welchem Furcht, Angst, Schmerz, Traurigkeit, Aggression und Wut gesteuert wird. Durch vermehrtes Cortisol erhöht sich das Hormon Serotonin, welches für positive Stimmung zuständig ist. In der Nacht entsteht aus dem Serotonin das Schlafhormon Melatonin, welches den Körper auf die Ruhephase einstellt und gleichzeitig entscheidend ist für Reparatur- und Regenerationsprozesse. Das Melatonin wird in der Zirbeldrüse gebildet, welche sich tief im Gehirn genau in dessen Mitte befindet. Ein wundersames und besonderes Organ, welches mit veränderten Bewusstseinszuständen und außerkörperlichen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht wird. Laut verschiedenen Autoren entspricht die Zirbeldrüse dem dritten Auge der asiatischen Weisheitslehren, die besagen, dass mit dem dritten Auge die Schau in die Transzendenz möglich ist.10 Die kleine Wunderdrüse produziert aus Melatonin den psychoaktiven Stoff DMT (Dimethyltriptamin). Diese körpereigene Droge lässt uns jede Nacht eine transzendente Erfahrung machen und zwar durch unsere Träume. Das Traumgeschehen wird laut Forschung durch DMT ausgelöst. Doch das DMT kann weit mehr; es hat das Potenzial der Entgrenzungserfahrung in sich und öffnet das Tor zur Transzendenz.11
Die beschriebene biochemische Reaktionskaskade bis zur Transzendenz ist folgende: vom erhöhten Oxytocin durch den Berührungsreiz zu weniger Cortisol zu mehr Serotonin zu mehr Melatonin zu mehr DMT. Es beginnt somit wieder bei der Haut mit ihrem Tastsinnsystem und ihrer Wirkung auf das Gehirn.

Das Wunder der Berührung

Die Hirnfunktion ist abhängig von Sinnesreizen und, wie erwähnt, in ihrer ersten und frühesten Entwicklung auf das Tastsinnsystem mit seinen beiden Ästen der Exterozeption (Hautwahrnehmung) und Propriozeption (Körperwahrnehmung im Raum) angewiesen. Das Hirn ist kein isolierter Satellit irgendwo „da oben“, sondern aufs Engste mit dem Körper und speziell mit dem Tastsinnsystem verbunden. Zudem geht aus dem oben Beschriebenen hervor, dass der Körper mit seinem Tastsinnsystem ein Sprungbrett zur Transzendenz sein kann, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind.
Klienten, die unsere Achtsamkeitsmassage12 genießen und unser Online-Training „Erwecke die verborgenen Kraftquellen deines Körpers“ durchführen13, berichten immer wieder von Erfahrungen der Ausdehnung und manchmal auch von Erfahrungen von Einssein. Achtsamkeitsmassage wirkt intensiv auf das Hautsinnsystem und die Propriozeption. Durch diese sanfte Berührungsarbeit wird es möglich, frühe prägende Erfahrungen oder fehlende Erfahrungen zu korrigieren. Ein Schlüssel dazu ist die Achtsamkeit. Eine Berührung, die mit Achtsamkeit durchgeführt wird, vermittelt eine andere Information als eine Berührung ohne Achtsamkeit. Falls die Erfahrung von Schutz und Liebe in der frühen Entwicklungsphase diese fehlende Erfahrung war, kann eine wiederholte mit Liebe und Achtsamkeit ausgeführte Berührung oder Massage eine korrigierende Erfahrung sein. Unsere zu achtsamer Berührung durchgeführten wissenschaftlichen Studien bestätigen diesen Zusammenhang.14
Durch eine neue und korrigierende Berührungserfahrung kann ich mich wieder in meiner Haut wohlfühlen, da das notwendige, natürliche und archaische Schutzbedürfnis befriedigt wird.
Dieses archaische Schutzbedürfnis, gepaart mit dem Bedürfnis nach Liebe, kann nicht über Denken, Verstehen, Wollen oder die anderen Sinnen befriedigt werden, sondern einzig und allein über eine sichere und liebevolle Berührung von Haut zu Haut. Fühle ich mich ausreichend sicher und genährt in meiner Haut, ist „das Verlassen des Nests“, der „Ich-umschließenden Haut“, erst möglich und die Reise zu einem ureigenen Potenzial jenseits meines kleinen abgegrenzten Ichs kann beginnen.
Letztendlich suchen wir alle nach Glück, auch wenn wir erst einmal dieses Glück in allen möglichen und unmöglichen Objekten und Erfahrungen suchen.
Doch das absolute wahre Glück ist erst möglich, wenn das Gefühl der Trennung sich lösen kann. Wenn das hauteingeschlossene und hautabgegrenzte Ich mit etwas Größerem und Weiterem verschmilzt und das Ich sich dabei selbsttranszendiert. Trennung geht immer mit Angst vor dem da draußen, vor dem Nicht-Ich und mit Gier nach dem da Draußen, nach dem Nicht-Ich, einher. Erst wenn ich zu „dem da Draußen“ werde bzw. mich nicht mehr nur mit dem Körper-Ich identifiziere, kann Glück sich einstellen. Die Haut spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Fußnoten

1 Grunwald, M. (2017): „Homo Hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“. Droemer Verlag, München.

2 Bystrova, K. (2009): „Novel mechanism of human fetal growth regulation: a potential role of lanugo, vernix caseosa and a second tactile system of unmyelinated low-threshold C-afferents“. Med Hypotheses. 2009 Feb;72(2):143-6. Pubmed.

3 Reissland, N. et al. (2015): „Laterality of foetal self-touch in relation to maternal stress“. Laterality. 2015;20(1):82-94. Pubmed.

4 Grunwald, M., Weiss, T., Mueller, S., Rall, L. (2014): „EEG changes caused by spontaneous facial self-touch may represent emotion regulating processes and working memory maintenance“. Brain Research. 1557, S. 111–126.

5 Grunwald, M., Ettrich, C., Krause, W., Assmann, B., Dähne, A., Weiss, T. & Gertz, H.J. (2001): „Haptic perception in anorexia nervosa before and after weight gain“. Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology, 23, 520-529. Pubmed.

6 Taylor, J. (2008): „Mit einem Schlag. Wie eine Hirnforscherin durch ihren Schlaganfall neue Dimensionen des Bewusstseins entdeckt“. Knaur Verlag, München.

7 Segal, S. (2000): „Kollision mit der Unendlichkeit: Ein Leben jenseits des persönlichen Selbst“. Rororo Verlag, Reinbek.

8 Newberg, A., Waldmann, M. R. (2010): „Der Fingerabdruck Gottes: Wie religiöse und spirituelle Erfahrungen unser Gehirn verändern“. Kailash Verlag, München.

9 Kirsch, P., Esslinger, C., Chen, Q., Mier, D., Lis, S. et al. (2005): „Oxytocin modulates neural circuitry for social cognition and fear in humans“. J Neurosci; 25:11489–11493. DOI:10.1523/JNEUROSCI.3984-05.2005 Pubmed.

10 Warnke, Ulrich (2017): „Die Öffnung des 3. Auges. Quantenphilosophie unseres Jenseits-Moduls“. Skorpio Verlag, München.

11 Strassmann, Renato (2004): „DMT – Das Molekül des Bewusstseins: Zur Biologie von Nahtod-Erfahrungen und mystischen Erlebnissen“. AT Verlag, Aarau.

12 Stötter, A., Stötter, D. (2014): „Tief berührt. Die Kunst der Achtsamkeitsmassage“. BoD Verlag, Norderstedt.

https://www.koerpererwachen.com/seminar-achtsame-beruehrung/

https://www.koerpererwachen.com/kraftquellen-online-training/

13 Stötter, A., Mitsche, M., Endler, P., Oleksey, P., Kamenschenk, D., Haring, C. (2013): „Mindfulness-based touch therapy and mindfulness practice in persons with moderate depression“. Int J Body Movement Dance Psychother 2013; 8:183-198. DOI:10.1080/17432979.2013.803154.

14 Stoetter, A., Harrer, M., Endler, P. C., Mosgoeller, W. & Haring, C. (2018): „Achtsamkeitsbasierte Massage kombiniert mit Achtsamkeitsschulung (Insightouch®) verringert Angst und Depression und verbessert die Bindungsqualität“. Complementary Medicine Reserach, Karger Basel doi: 10.1159/000492060 Pubmed.

Literatur

1 Stötter, A., Mitsche, M., Endler, P. C., Oleksy, P., Kamenschek, D., Mosgoeller, W. & Haring, C. (2013): „Mindfulness-Based Touch Therapy and Mindfulness Practice in Persons with Moderate Depression“. International Journal for Body, Movement and Dance in Psychotherapy. Taylor&Francis, London.

2 Stötter, A., Harrer, M., Endler, P. C., Mosgoeller, W. & Haring, C. (2018): „Achtsamkeitsbasierte Massage kombiniert mit Achtsamkeitsschulung (Insightouch®) verringert Angst und Depression und verbessert die Bindungsqualität“. Eingereicht und angenommen bei Complementary Medicine Research. Krager Verlag, Basel.

3 Stötter, A., Stötter, D. (2014): „Tief berührt – die Kunst der Achtsamkeitsmassage“. Book on Demand, Norderstedt.

4 Stötter, A. (2013): „Wege aus der Depression – Die Heilwirkung von Achtsamkeit und Berührungstherapie bei Depressionen“. raum&zeit Ausgabe 186/2013. Ehlers Verlag, Wolfratshausen.

5 Stötter, A. (2014): „Wie Achtsamkeitsmassage seelische Wunden heilt“. raum&zeit Ausgabe 190/2014. Ehlers Verlag, Wolfratshausen.

6 Stötter, A. (2015): „Achtsamkeit und Transzendenz: Der Körper ist kein Hindernis, sondern Fahrzeug ins Erwachen“. raum&zeit Ausgabe 197/2015. Ehlers Verlag, Wolfratshausen.

7 Stötter, A. (2016): „Achtsamkeitsmassage, ein neuer Weg zur seelischen Gesundheit“. Zeitschrift Pulsar, Heilgenkreuz.

Der Autor

Dr. Andreas Stötter MSc., Jahrgang 1958, Vater von 5 Kindern und Großvater von 7 Enkelkindern; Doktor und Master in komplementären, integrativen und psychosozialen Gesundheitswissenschaften; ECP – Europäisches Zertifikat für Psychotherapie; Körperpsychotherapeut zugelassen durch die EAP (European Association for Psychotherapy); zertifizierter Hakomi®-Therapeut; Leiter und Dozent an der Yoni Academy für ganzheitliche Gesundheitskultur; Heilmasseur und Körpertherapeut; Zusatzqualifizierung in der Hakomi-Traumatherapie; Autor des Buches: „Tief berührt – Die Kunst der Achtsamkeitsmassage“; Begründer von Insightouch® – mindfulness based bodywork

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