Wider die Angst

Warum es zivilen Ungehorsam braucht, um unsere Allgemeingüter zu verteidigen

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Fünf Konzerne haben weltweit das Gesundheitswesen und die Lebensmittelversorgung an sich gerissen, kritisiert die indische Bürgerrechtlerin Vandana Shiva. Ihr Land ist besonders von der getarnten Wirtschaftsdiktatur betroffen. Indische Bauern verlieren ihre Unabhängigkeit, ihre Tradit...
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Wider die Angst
Von Vandana Shiva, Neu Delhi, Indien – raum&zeit Newsletter

Fünf Konzerne haben weltweit das Gesundheitswesen und die Lebensmittelversorgung an sich gerissen, kritisiert die indische Bürgerrechtlerin Vandana Shiva. Ihr Land ist besonders von der getarnten Wirtschaftsdiktatur betroffen. Indische Bauern verlieren ihre Unabhängigkeit, ihre Tradition und ihre Überlebensfähigkeit. Die Verbraucher müssen mit genmanipulierten und pestizidverseuchten Waren Vorlieb nehmen. Für Vandana Shiva ist der Kapitalismus ein Krebsgeschwür, das sich über die gesamte Welt ausbreitet.

Im Griff des Kapitalismus

Eine der größten Herausforderungen für Solidarität ist heute der Umgang mit den Erfindungen und Konstrukten, die der Kapitalismus geschaffen hat, um uns, unsere Welt und unser Denken zu beherrschen. Ich komme aus Indien. Unser Land wurde jahrzehntelang von der  East India Company  beherrscht, eine der ersten Kapitalgesellschaften überhaupt.  1857 gab es unsere erste Unabhängigkeitsbewegung. Der Aufstand scheiterte, aber er brachte das Ende der Herrschaft von East India Company.  Die Herrschaft der internationalen Konzerne hat für die Menschen in Indien bereits Züge der totalen Kontrolle über Handel und Wirtschaft, die einst die East India Company ausübte. Damals hatten wir die East India Company, jetzt haben wir Saatguthersteller, Pharmamultis, chemische und biogenetische Bigplayer, die unser Land regieren. 

Immer deutlicher wird, dass das Gesundheitswesen und die Lebensmittelversorgung weltweit von fünf Konzernen bestimmt werden. Aus meiner Sicht ist das Diktatur und keine Wirtschaftsdemokratie. Ein Wandlungsprozess hat stattgefunden. Die Demokratie ist nicht mehr vom und für das Volk, sondern von und für die Konzerne. Wenn wir uns heute hier mit einer Neubestimmung von Solidarität beschäftigen, dann müssen wir mit dieser Herrschaft der Konzerne umgehen. Wenn wir darüber nicht reden, werden wir nicht die nächsten Schritte auf dem Weg zur Verteidigung unserer Freiheiten und zu unserer Befreiung bestimmen können. 

Jetzt werden auch an uns die Limousinen, die Mercedese und BMWs verkauft und dafür muss noch der letzte Rest Stahl und Aluminium abgebaut werden. Wir befinden uns im letzten Stadium unternehmerischer Habgier. Es richtet sich direkt gegen die sozialen Existenzrechte der Armen. Dieser Angriff erfolgt manchmal indirekt, aber auch unverblümt und offen, denn die Konzerne nehmen sich einfach die Allgemeingüter, die Commons. Sie privatisieren die Lebens- und Existenzgrundlage der Menschen und machen es zu ihrem Eigentum. Nehmen wir die Beispiele Medizin und Saatgut. Die Patente reichen durch die Regulierungen der Welthandelsorganisation (WTO) und die Vereinbarungen über geistiges Eigentum (TRIPS) so weit, dass die Konzerne, die Patenthalter, nicht ruhen werden bis sie jedes lebende System auf diesem Planeten monopolisiert haben. 

Aufoktroierte Lebensmittelkrise

Meine Tätigkeit ist darauf ausgerichtet, dass Lebensgrundlagen nicht privatisiert werden, dass Bauern das Recht auf Reproduktion von Saatgut haben, dass wir pharmazeutische Produkte selbst herstellen können. Denn unsere eigenen Medikamente kosten hundert mal weniger als die der großen internationalen Unternehmen. 

Wir befinden uns mitten in einer Lebensmittelkrise. Die Financial Times und das Wall Street Journal berichten von einem neuen Plan der Weltbank. Aber der neue Plan der Weltbank ist der alte Plan, der diese Ernährungskrise verursacht hat. Nun sollen unsere Steuergelder dafür eingesetzt werden, um genetisch verändertes Saatgut und Düngemittel noch höher zu subventionieren und noch schneller im Süden einzusetzen. Subventioniert werden auch Suez, Vivendi und RWE, die ganz scharf darauf sind,  jeden Tropfen Wasser zu privatisieren. 

Für alle Lebensbereiche sind die Pläne genau ausgearbeitet. Diese Konzerne wissen, was sie wollen. Wenn es ihnen gelingt durchzusetzen, dass jeder Bauer jährlich Lizenzgebühren für Saatgut bezahlt, dann haben sie einen  globalen Markt, der drei Billionen Dollar hergibt. Diese Gewinne sind definiert und eingeplant. Und deshalb werden sie jede Form des Terrors, des Angstschürens und der Einschüchterung nutzen, um die Bauern zu zwingen ihre Freiheiten aufzugeben.

Vor ein paar Jahren hatte ich in Leipzig  in einer Kirche eine Diskussion, an dem auch der deutsche Bauer Josef Albrecht teilnahm. Er wurde verklagt, weil er es wagte, Saatgut selbst herzustellen und es mit seinen Nachbarn zu teilen. Die Konzerne wollen, dass weltweit alle Bauern jedes Jahr Saatgut nur bei ihnen kaufen. In den USA wurden 500 000 Bauern deshalb verklagt. In Indien haben 200 000 Bauern deshalb Selbstmord begangen.

Der Wasserraub

Die Privatisierung von Wasser bringt Milliardenprofite. Ein ungeheures Geschäft mit einem existentiellen Bedürfnis der Menschen, das nun zu Marktpreisen befriedigt werden soll. Was Marktpreise bedeuten, wissen wir. Coca Cola stiehlt jeden Tag zwischen 1,5 und 2 Millionen Liter Wasser; jede einzelne Coca Cola Niederlassung nimmt sich einfach das Wasser, das sie benötigt. Es brauchte den Mut einer Frau aus Kerala, die sich dagegen wehrte, dass sie jeden Tag noch mehr Meilen laufen musste, um an Trinkwasser zu kommen, während Coca Cola es einfach nahm und verschmutzt zurückließ. Sie hat zusammen mit weiteren zehn Frauen vor sechs Jahren eine Aktion zivilen Ungehorsams vor den Werkstoren von Coca Cola begonnen. Daraus entstand eine zivilgesellschaftliche Bewegung, der es am Ende gelang, die Schließung des Werkes zu erreichen. 

In diesem Kampf  taten wir das, was Gandhi 1930 getan hatte, als die Briten das Salz monopolisieren wollten. Sie hatten ein Gesetz erlassen, in dem sie uns die Salzgewinnung verbaten. 

Gandhi ging damals  zum Strand, hob das Salz auf und sagte: „Die Natur gibt es umsonst, wir brauchen es für unser Überleben, wir werden damit fortfahren, unser Salz herzustellen. Wir werden eure Gesetze missachten.”  Diese Gesetzesübertretung nannte er Satyagraha – ein ethisches Prinzip, mit dem er zuvor schon in Südafrika seine Regelverweigerung, seinen Gesetzesbruch, seinen Widerstand gegen die Apartheid begründete. (Satyagraha bedeutet so viel wie: das unbeirrte Festhalten an dem, was sein soll, weil es wahr ist. Ein Aufruf zu zivilem Ungehorsam auch gegen herrschende Gesetze). 

Krebsgeschwür Konsum

Und jetzt, hundert Jahre später stehen wir hier und überlegen, wie wir gegen die Diktatur der Konzerne vorgehen können, die uns alle unsere Freiheiten rauben will. Eine der Illusionen, die sie uns verkaufen, ist, dass es mehr wirtschaftliche Freiheit bringen würde, wenn wir wirtschaftliche Freiheiten aufgeben. Sie ersetzen unsere Freiheiten als Arbeiter, als Angestellte, als Bauern, als Krankenschwestern, als Ärzte durch das Recht und die Freiheit zu kaufen. Wir werden zu Konsumenten reduziert. Der Konsumismus soll unsere Erfahrung der Freiheit sein und damit partizipieren wir am Katastrophenkapitalismus.

Der Konsumismus ist für unseren Planeten ein Krebsgeschwür im Endstadium. Er hat einen unstillbaren Appetit  auf unsere Ressourcen und unsere Allgemeingüter, unsere Commons.  

Solidarität heißt deshalb heute, unsere Commons, unsere Allgemeingüter auf lokaler und globaler Ebene zu verteidigen. Wir müssen die kleinen Seen eines winzigen Dorfes genauso verteidigen wie die Atmosphäre unseres Planeten, die durch den Emissionshandel privatisiert wird. So hat Nicholas Stern im Klima-Bericht der britischen Regierung  klar formuliert: „Emissionshandel bedeutet Eigentumsrechte an der Atmosphäre.“ Aber wer bekommt diese Eigentumsrechte? Die Verschmutzer. Eigentlich besagen die bislang geltenden Umweltschutz-Gesetze, dass der Verschmutzer zahlen muss. Der Handel mit Emissionen stellt dieses Gesetz auf den Kopf. Nun wird der Verschmutzer bezahlt. 

Wenn wir unsere Commons verteidigen wollen, können wir nicht schweigend abseits stehen, wenn Staaten, die von Konzernen regiert werden, unseren Reichtum unter- einander aufteilen und damit unsere Zukunft gefährden. Diese Solidarität, die notwendig ist, um unsere lebensnotwendigen Allgemeingüter zu verteidigen, geht über den bisherigen Begriff von Solidarität hinaus.

Früher genügten uns einfache Gewerkschaften, aber in Zeiten, in denen das Kapital global agiert und keine Grenzen mehr kennt, müssen auch wir Grenzen überwinden. Niemand kann alleine gleichzeitig überall sein, deshalb müssen wir durch unsere Solidarität überall gegenwärtig sein. Die neue Solidarität muss eine Allianz der Solidarität in der Vielfalt sein. 

Unsere Bewegung vereint Bauern und Konsumenten. Bauern sind nicht länger nur Produzenten, Konsumenten nicht länger nur Esser. Konsumenten und Produzenten zusammen müssen einen Plan entwickeln, der allen Nahrung und Gesundheit bietet. Und es funktioniert, wir müssen nicht warten bis die Staaten ihre Politik ändern und dann eine andere Ernährungspolitik betreiben. 

Wie Sie wissen, verlegen Firmen wie Mercedes Benz oder BMW Teile ihrer Produktion nach Indien; sie alle brauchen Land. Das Land, auf dem diese Fabriken gebaut werden, stehlen sie den armen Bauern. Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem Vertreter der Gewerkschaften von FIAT. Sie solidarisieren sich  mit den Bauern, die von Tata und FIAT in Singur ausgeblutet werden. Wer hätte sich vor zehn Jahren  vorstellen können, dass Gewerkschaften eines Autoherstellers mit einfachen Bauern um die gleichen Ziele kämpfen. 

Wenn wir realisieren, dass Vielfalt kein Hindernis für die Solidarität darstellt, werden sich ganz neue Wege eröffnen, auf dieser Welt zu leben. Wir nennen es „Erdendemokratie“. Wir müssen das Definitionsrecht, was Menschsein auf diesem Planeten im Jahr 2008 bedeutet, zurückfordern. Dabei müssen wir alle mit einbeziehen, denen Nahrung verweigert wird, oder die Opfer ungerechter Kriege sind, die auf diesem Planeten geführt werden. Und während wir alle gemeinsam solidarisch nach einer Lösung suchen, müssen wir unerschrocken gegen den Diebstahl unseres gemeinsamen Reichtums, unserer Commons vorgehen. Der letzte Widerstand ist der Widerstand gegen die Angst. Wir müssen klar machen, dass wir nur die Gesetze anerkennen, die auf Gerechtigkeit und Ökologie basieren und nicht die der Konzerne. Solche Gesetze werden tagtäglich geschaffen, um unser Leben zu kontrollieren und uns davon abzuhalten, aktiv zu werden. Sie reduzieren uns auf die Angst.

Das ist Faschismus, das ist das endgültige Ende der Freiheit, die wir so sehr brauchen. Wir können uns nicht leisten, dass das Prinzip der Angst die Welt beherrscht als letzter Weg, um eine Menschheit, die sich nach Freiheit, Gemeinsamkeit und Solidarität sehnt, zum Schweigen zu bringen.

Der Text gibt eine Rede wieder, die Vandana Shiva auf dem medico-Kongress „Solidarität heute“, im Mai 2008 gehalten hat.

Die Autorin

Vandana Shiva
ist Doktor der Physik und setzt sich seit den 70er Jahren für Ökologischen Umgang mit den natürlichen Ressourcen in Indien ein. Die Indische Bürgerrechtlerin ist Vordenkerin des Ökofeminismus, eine der bekanntesten Widersacherinnen gegen die Patentierung von Saatgut und Medikamenten, und hat den Alternativen Friedensnobelpreis erhalten. 

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