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Die Verrückten, das sind immer nur die anderen

Von Christine Kammerer, Nürnberg – raum&zeit Ausgabe 190/2014

Sind Sie eigentlich normal? Und falls ja – was macht Sie da so sicher? Lesen Sie doch mal die Bibel der Psychiatrie – den DSM. Da ist wirklich für jeden was dabei. Ein bisschen Schizophrenie, eine Prise Paranoia oder einfach ein paar harmlose kleine Störungen.

Warum wollen Sie denn überhaupt normal sein? Normal ist doch langweilig. Wenn Sie nicht wenigstens ein kleines Neuröschen vorzuweisen haben, können Sie gesellschaftlich auch nicht mehr so recht mithalten. Ein bisschen gestört ist schließlich schick und gehört heute einfach dazu wie die Brille von JOOP! und das Täschchen von Prada.

Wenn Sie alleine gar nicht weiterkommen, dann fragen Sie doch einfach einen jener sympathischen Zeitgenossen, die immer ganz genau wissen, was gar nicht normal ist – die allseits so beliebten Gurus der Küchenpsychologie. Blutige Laien, die Ihnen aber immer wieder gerne eben mal so zwischen Tür und Angel ihre profunden Erkenntnisse um die Ohren hauen. Reich dekoriert mit ziemlich professionell klingendem Psycho-Jargon – soeben frisch aus dem Lesezirkel beim Friseur erworben.

Falls Sie auch das nicht wirklich zufrieden stellt, können Sie natürlich auch zu einem diplomierten Halbwissenden gehen oder noch besser gleich zu einem Halbgott in Weiß. Die sind nämlich nie um eine Diagnose verlegen. Darf‘s auch ein bisschen mehr sein? Borderline vielleicht? Auch Depression wird immer wieder gern genommen.

Sie denken jetzt vermutlich immer noch, dass Sie völlig normal sind. Aber was ist das eigentlich – normal? Wo fängt es an, wo hört es auf? Ja, der Wahn zum Beispiel – der ist definitiv nicht mehr normal. Es gibt dabei nur ein winzig kleines Problem: Die meisten Wahnsinnigen halten sich nämlich selbst für völlig normal. Die Verrückten, das sind immer die anderen.

Das dachte auch Professor Maillard, der Leiter einer einstmals renommierten Anstalt. Bekannt durch ihre überaus humanen Methoden. Respektvoll, einfühlsam und kurzum – einfach vorbildlich. Professor Maillard vertraute auf das System von Dr. Teer und Professor Feder. Namhafte Experten auf ihrem Gebiet. Und die hatten herausgefunden, dass Verrückte manchmal unheimlich clever sein können. Sie tun mitunter einfach so, als wären sie geheilt. Aber wer hätte es besser gewusst als Professor Maillard: Wenn ein Verrückter vollkommen gesund erscheint, dann wird es allerhöchste Zeit, ihn in die Zwangsjacke zu stecken!

Seine Behandlungsmethoden waren – nun, sagen wir einmal: unkonventionell. Aber sie machten den Pflegern so gar keine Umstände. Denn die Kranken befanden sich stets in strengem Gewahrsam. Unter strengster Überwachung. Denn Verrückte sind nun einmal unberechenbar. Deshalb fand Herr Maillard es auch besser, sie einfach wegzuschließen.

Das System von Dr. Teer und Prof. Feder funktionierte perfekt. Obgleich es sie genau genommen niemals gab. Aber Professor Maillard war tatsächlich der Leiter der einstmals angesehenen Anstalt – jedenfalls in der kleinen Geschichte von Edgar Allan Poe. Bis er selbst dem Wahnsinn anheim fiel und zum Insassen wurde. Er selbst hielt sich natürlich für völlig normal. Also überwältigte er das Personal und übernahm dann einfach wieder selbst das Regiment. Und niemand hat es bemerkt. Denn die Verrückten, das sind immer die anderen …

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