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Die Macht der kurzen Mitteilungen

Die kleinen Dinge unserer Gesellschaft (2)

raum&zeit-Kolumne von Manfred Jelinski

Twittern Sie auch?
Ja?
Ist das nicht toll? Ein wunderbares Medium, mit dem man die ganze Welt erreichen und wunderbar auch über alles herziehen kann, denn man wird ja bemerkt.
Man braucht auch keine Ahnung von einem Thema zu haben. Die jetzt immerhin 280 Zeichen sind sowieso zu wenig, um Begründungen und Wissensvermittlung zuzulassen. Aber man kann seinen Senf zu allem zugeben und die wirklich kompetenten Personen, die etwas mitzuteilen haben, durch unsachgemäße Einwürfe zur Weißglut bringen.
Dass sie sich verteidigen müssen.
Dass sie auch den ganzen Tag mit Kurzmitteilungen verbringen.
Dass sie dann auch mal die Contenance verlieren.
Und, hah! Dann hat man sie am Wickel! Dann können sie erst recht nichts anderes tun, als zu twittern.
Und verstricken sich natürlich immer weiter in die Abwehr von Anfeindungen, Verballhornungen und schwer erkennbarer Satire, die ja eigentlich nicht so gemeint war, aber vielleicht doch, oder so.
Aber das kann man ja herausfinden, wenn man den ganzen Tag im Thread bleibt. Und die Nacht vielleicht auch.
Denn es kann ja jeder twittern, überall, im Bus oder im Bett, und es kann ja sein, dass irgend so ein Muggel dann zu viele andere Muggels überzeugt, die auch keine Ahnung haben, aber eine Meinungsfront vertreten. Anonym, nicht wahr?
Als Politiker muss man da schon Acht geben.
Monsieur Macron hat das auch gelernt.
Dass die Sacharbeit dann auf der Strecke bleibt und Entscheidungen emotional kurzschlussartig unter Zeitdruck gefällt werden müssen, versteht sich von selbst.
Und von den Meinungen der Twitter-Nutzer beeinflusst.
Die Nicht-Nutzer, die in der Bevölkerung tatsächlich die Mehrheit haben – können Sie glauben oder sich weiter mit Zwitschereien wichtig machen – die Mehrheit also dringt mit ihrer Meinung nicht mehr durch. Und das wäre ja auch ... Stellen Sie sich vor, alle Menschen würden twittern und Anspruch aufs Gelesenwerden erheben!
Millionen und aber Millionen von „Find ich gut!“, „Nee, was ein Scheiß!“, „Der hat sie doch nicht alle!“, „Pass auf, du!“, das würde unsere gesellschaftliche Entwicklung und die Lösung sozialer Probleme, und erst die wirtschaftlichen(!), total voranbringen, finden Sie nicht auch?
Übrigens, ja, ich weiß auch, dass ich in den Beispielen mir bekannte Äußerungen ins Hochdeutsche übersetzt habe. Die Originalmitteilungen sind oft total kryptisch in Buchstabenzeichenkombinationen versteckt, für die man eigentlich einen extra Lehrgang benötigt. „Jo, hoho! Evil! Fyi! Lol! Gn8 you mf^^ gmpf!“
Da muss man mitmachen, sonst ist man nicht akzeptiert.
Ach, Sie meinen, ich wäre jetzt ein nörgelnder Fortschrittsfeind?
Aber nicht doch. Twitter ist ein echter Segen. All jene, die sonst auch nichts Wichtiges zu sagen haben, sind wenigstens beschäftigt.
Das Volk also.
Und man kann Leben retten.
Wenn eine saudische Frau sich im Flughafen verbarrikadiert und um Hilfe ruft, weil sie zwangsverheiratet werden soll. Das breitet sich ganz schnell viral aus und die Politiker sind ganz schnell dabei, zu helfen. Die westlichen jedenfalls.
Oder wenn Schiffbrüchige auf dem Mittelmeer um Hilfe rufen.
Dann sind die Politiker auch ganz schnell dabei, einen Rettungshubschrauber zu schicken. Gewalt gegen Frauen geht gar nicht und Menschen ertrinken lassen auch nicht.
Millionen können sich für die Menschlichkeit einsetzen. Und dann passiert – vielleicht – auch etwas.
Ich sage ja, ich finde Twitter gut.
Oder?
Man weiß auch sofort, dass in der hohen Weltpolitik wichtige Sachen angekommen sind. Zum Beispiel, dass die Finnen ihre Wälder fegen und damit Waldbrände verhindern.
Und wenn etwas Ungutes passiert, haben die Journalisten sofort die Kernbotschaften zusammengefasst: „Davon distanziere ich mich vollständig! Das gehört nicht in eine Demokratie! Ich bin bestürzt, unendlich traurig, geschockt und voller Mitgefühl!“ Man muss nur aufpassen, dass die Satzbausteine sich nicht zu offensichtlich und schnell wiederholen.
Es sind doch immer die Nutzer, die ein Medium zum Gewinn für die Menschheit machen.

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