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Aufpassen! Mutti hat keine Zeit!

raum&zeit-Kolumne von Manfred Jelinski

Mir fiel neulich, als ich meiner Tochter wieder mal was vorlesen wollte, (ja, echt, Väter können das!) ein altes Buch aus meiner Kindheit in die Hände.
„Mutti hat keine Zeit“ hieß das Fischer Buch, vermutlich aus dem Jahr 1958 und geschrieben von „E.S. Schäfer“.
Ich mag ja alte Sachen. Aber das ging zu weit. Ich stockte beim Vorlesen und überlegte, was für ein abstruses, völlig überkommenes und auch noch frauenfeindliches Weltbild ich gerade hier im Begriff war, meiner Tochter zu vermitteln. Aber lesen Sie selbst.
Es geht um Edith, die mutmaßlich ungefähr 16-jährige Tochter der Familie Kulicke, die sich bei einem befreundeten Gärtner mal so richtig auskotzt:

„Wie alltäglich ist das alles! Mama ist vom Rheuma geplagt, der Vater und der Bruder verdienen zusammen beinahe tausend Mark im Monat. Aber wir reichen nie damit, weil eine überflüssige Anschaffung der anderen folgt. Mutter muss also mitarbeiten. Diesmal soll ein Fernsehempfänger gekauft werden. Wissen Sie, was das bedeutet? Es gelingt dem Apparat sicher, die Familie vorübergehend abends öfter als bisher um den häuslichen Tisch zu versammeln. Bringt er uns aber menschlich näher? I bewahre! Das Licht wird gelöscht, ‚Pst’ heißt es, und jeder sitzt wieder für sich allein auf seinem Stuhl. Der Apparat denkt, sieht, hört und erlebt für uns. Er kaut uns alles so gründlich vor, dass wir nichts mehr zu sagen brauchen, – bis auf einige Bemerkungen: ‚War wieder mal schön!’ oder ‚Hat mir weniger gefallen!’
Es gibt keine Besinnung mehr. Wir werden Arbeitsmaschinen, die ferngesteuert in den Schlaf gewiegt werden, um am anderen Morgen frisch zu sein, – zur Bedienung von Maschinen, die nur stumpfsinnige Handgriffe von uns verlangen.“

Sie sehen ja selbst: Aus heutiger Sicht ist es natürlich höchst bedenklich, was sich hier ein Autor erlaubt, als Weltanschauung an die jungen Leser zu übergeben! E.S. – das ist wahrscheinlich auch ein Mann, wenn er sich schon verschämt abkürzt, um dann über „Mutti“ zu schreiben! Welch anachronistisches Wort! Das waren die Bücher, die früher die Frauenbefreiung verzögerten, wenn nicht gar lange verhindert haben!
Hier werden in geradezu sträflicher Weise gefühlsduselnde Argumente instrumentalisiert, und das für fadenscheinige Ziele! Ein heimtückischer Schlag in das Gesicht der Gleichberechtigung!
Ich will hier einmal versuchen, im Detail aufzuzeigen, wie niederträchtig der Verlag damals gehandelt hat, dies zu verlegen!
Solche rückständigen Bücher gehören in den Müll! Vielleicht sogar öffentlich verbrannt!
Hier wird zunächst einmal beklagt, dass „überflüssige Anschaffungen“ getätigt werden. So ein Blödsinn. Jeder halbwegs wache Betriebswirtschaftler wird bestätigen, dass es für die Wirtschaft eines Landes keine überflüssigen Anschaffungen der Bevölkerung gibt. Ein gutes Bruttoinlandsprodukt ist das A und O eines modernen Landes.
Auch die Hetze gegen den Fortschritt in dieser Schwarte ist bedenklich. Hätten wir damals das Fernsehen abgelehnt, gäbe es heute keine Smartphones! Und überhaupt: Fernsehen spielte immer eine wichtige Rolle für die Volksbildung. Und setzen sie heute Internet statt Fernsehen ein!
Und dann das Ansinnen, sich in der Familie unterhalten zu wollen! Ja, worüber denn? Lesen Sie mal weiter!
Edith kommt gerade von der Schule nach Hause:

„Es war niemand in der Wohnung. Der Vater, Dreher in einer Werkzeugfabrik, Wilhelm, Maurer auf dem Bau, arbeiteten. Mutter Kulicke war auch schon unterwegs. Das Essen stand auf dem Herd. Die Mutter kochte immer, wenn sie vom Zeitungsaustragen zurückkehrte. Sie aß dann meist allein, zuweilen mit Edith, die im Anschluss an den Unterricht an drei Tagen noch Nachhilfestunden gab. Dann ging die Mutter wieder fort. Wenn Edith kam, schaltete sie mit einem automatischen Griff den Herd ein, wärmte sich das Essen, schaltete den Herd aus – und ging auf ihr Zimmer.
Dann kamen der Vater und der Bruder. War Edith nicht zu Hause, um sich der beiden annehmen zu können, dann schaltete jeder für sich den Herd ein und aus, aß allein, um sich dann entweder auszuruhen oder wieder fortzugehen. Kam gegen halb neun abends die Mutter nach Hause, todmüde, geplagt von ihrem Rheuma – war es schon still im Haus. Nur Edith nahm sich ihrer dann noch an. Es verging oft mehr als eine Woche, bis die Familie Kulicke einmal gemeinsam an einem Tisch saß. Und das sollte so weitergehen – wegen eines Fernsehempfängers?“

Heute stoßen diese Zeilen auf ein völliges Unverständnis. Ja, wie soll es denn auch anders sein, wenn die Familienangehörigen ihrer Arbeit nachgehen, für das Gemeinwohl tätig sind und der Wirtschaft helfen!
Und über was wollte Edith mit ihrem Vater und Bruder reden? Wie wieder ein Werkstück an der Drehbank schwierig zu nehmen war oder der Polier besoffen auf den Bau kam und die Richtschnur verbummelt hatte, sodass nun die Mauer schief wurde? Oder die Mörtelmischung wieder anders erstellt werden sollte?
Sicherlich würde daraufhin Edith mit ihren schulischen Inhalten, Shakespeare oder Homer auch kaum Interesse finden und würde den anderen nur die Ohren vollquatschen. Und die Mutter?
Hätte sie mal in der Schule aufgepasst, könnte sie jetzt im Aufsichtsrat sitzen!
Natürlich ist die damalige Schulordnung zu bemängeln. Mit einer besseren Bildung hätte Mutti durchaus in angesehenen Gremien oder im Parteivorstand sitzen können, mindestens aber in einer Bezirksversammlung.
Dann hätte das Zeitungsaustragen Arbeit suchenden Schülern zugute kommen können, die ihr Taschengeld aufbessern wollten, vielleicht um auf einen eigenen Fernseher zu sparen. Heute wäre das auch ein guter Job für Migranten, sollten sie mal eine Arbeitserlaubnis bekommen, um ein wenig auch deutsche Sprache und Kultur kennen zu lernen – oder sogar hier und da ein freundliches Zunicken zu bekommen.
Man muss fairerweise den damalige Stand der Technik einbeziehen, wenn Vater und Sohn unfähig sind, sich selbst etwas zu kochen. Heute ist das viel besser lösbar, indem man Alexa übers Handy mitteilt, wann der Herd warm zu sein hat. Und der Thermomix kann für jeden einzelnen in der Familie das Essen termingenau frisch zubereiten, auch wenn man von Nahrungszubereitung keine Ahnung hat.
Gut, jetzt wollen wir aber noch wissen, was der Autor dieses furchtbaren Elaborats als Lösung seines scheinbaren Dilemmas vorschlägt.
Hören wir weiter der vom Schreiberling verbal vergewaltigten Edith zu:

„Da habe ich auf den Tisch geklopft und gesagt: Jetzt ist aber Schluss! ... Unsere Mutter schindet sich nicht mehr für neue Abzahlungsverpflichtungen. Wir behalten sie im Haus. Sie soll es leichter haben und uns ein Heim schaffen. Bisher haben wir in einem Taubenschlag gehaust.“

Jetzt wird die ganze Perfidität des Machwerks klar! Man sieht hier deutlich, wie früher durch sentimentales Geschwätz verbrämt („abschinden, Heim schaffen“) eine absolut frauenverachtende Ideologie zur Stärkung eines Vorkriegsdogmas eingesetzt wird, um die Frau wieder an den Herd zu stellen. Wie gut, dass wir heute so gut informiert sind, dass wir dieses gesellschaftsfeindliche Dogma entlarven konnten.
Auf keinen Fall darf unsere Tochter mit diesem geradezu faschistischen Gedankengut in Berührung kommen!
Sie kriegt jetzt ein Smartphone, um sich mit fortschrittlichen Menschen vernetzen zu können. Dann muss ich ihr abends auch nicht mehr vorlesen.

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