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Kann man im "Neuland" lernen?

raum&zeit-Kolumne von Manfred Jelinski

So! Da haben wir es! Es gibt keine „Volksparteien“ mehr! So jedenfalls die öffentlich gewagte journalistische Ausdrucksweise. Die „großen“ Parteien sind nun endgültig zurechtgestutzt.
Und was sagt Manfred Weber, der Spitzenkandidat der CSU? „Die Union hat einen klaren Führungsanspruch in Europa!“1
Ich schüttele schon gar nicht mehr den Kopf. Es ist so sinnlos. Offenbar ist egal, was passiert. Da können noch hundert Youtuber kommen und Klartext reden, so wie dieser „Jungspund“ Rezo.2 Sie verstehen es nicht. Oder wollen es nicht verstehen.
Wie immer ist mir das öffentlich-rechtliche Radio ein hilfreicher Assistent, um meinerseits zu verstehen, was da eigentlich läuft – da draußen in der „großen“ Politik.
In einer Diskussionsrunde des Deutschlandfunks hörte ich doch tatsächlich folgenden Diskussionsbeitrag. „Die jungen Leute müssen lernen, dass Demokratie nicht die Ausübung der Macht durch die Mehrheit ist.“
Aha, dachte ich, was kommt jetzt? Die Erklärung, warum wir nun in Deutschland seit für junge Leute „ewigen Zeiten“ eine große Koalition haben, in der um Posten und Positionen gestritten wird, deren Umsetzung dann auch nichts mehr mit den Vorstellungen der Wähler zu tun hat, die vielleicht ein Parteiprogramm gelesen haben?
Warum das jetzt Demokratie ist? Umsonst gewartet.
Stattdessen wird in den „Kindernachrichten“ des NDR den Zwölfjährigen erklärt, dass es im Europoawahlkampf darum geht, „ob die Parteien gestärkt werden, die den bisherigen Kurs für ein gemeinsames Europa fortsetzen wollen oder ob die Gegner der EU viele Stimmen bekommen“.3
Natürlich soll man Kindern die Sachverhalte einfach erklären. Aber mit zwölf Jahren geht man heutzutage am Freitag-Vormittag für ganz andere Sachen demonstrieren.
„Schulschwänzer!“
Kommt mir bekannt vor. Als meine Generation 1968 gegen Krieg und selbstherrliche Alt-Erwachsenen-Vorstellungen demonstrierten, waren wir alle „Kommunisten“. Auch wenn kaum einer wusste, was das eigentlich bedeutete. Aber Rundfunk und Fernsehen, treu auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, hatten diese Parole ausgegeben. (Und nicht nur die Springer-Presse.)
Und sage mir keiner, der Autor hier hätte das alles vom Sessel aus betrachtet. Ich selbst habe zu dieser Zeit als Inhaber eines ersten basis-demokratisch organisierten Jugendzentrums erfahren, wie sich die „Volksparteien“ und die allesamt „freiheitlich-demokratischen“ Journalisten reihenweise kriminalisierende Dinge ausdachten, die definitiv nicht stimmten, aber als Wahrheit dargestellt wurden. Und die Grundlage für Übergriffe der Polizei darstellten. Die wiederum keinerlei Beweise erbrachten. Alle Verfahren wurden eingestellt. Aber da war schon alles in den Boden getreten – mein Glaube an freiheitlichdemokratische Grundordnung auch. Das war meine jugendliche politische Prägung und ich dachte: „Aha, so ist Politik!“4
In den 80er Jahren erlebte ich, wie die Polizei, nun schon schlauer geworden, bei Hausdurchsuchungen in der Hausbesetzerszene die Beweismittel gleich selbst mitbrachte, die sie dann zufällig in den reihenweise sicherheitshalber aufgeschlitzten Polstermöbeln „fand“. Und nie hatte das politische Handeln wirklich etwas zu tun mit der Weichenstellung für die kommende Generation, sondern immer mit der Verteidigung der eigenen Pfründe und der Teilhabe an Profiten der Wirtschaft.
Hat jemand den jungen Leuten mal erklärt, warum man 256 Milliarden in die Bankenrettung investieren musste, um die Sünden der Elterngeneration zu „retten“? Während es in Schulen durchregnete?
Eigentlich habe ich schon lange auf die aktuelle Entwicklung gewartet. Die neuerliche Empörung der Jugend wurde aber sehr sorgfältig durch neue Medien und Videospiele abgefangen. Doch irgendwann ist trotz Sucheffekt das letzte Spiel gespielt, der letzte bedeutungslose Smiley gepostet oder geteilt.
Gibt es deshalb Hoffnung?
Mit großem Interesse verfolge ich den Abwehrkampf, den auch die öffentlich-rechtlichen Medien mitgestalten. Zur Erstellung klarer Feindbilder werden jetzt Wähler in „Befürworter und Gegner“ von Europa eingeteilt. Und auch hier hat die Botschaft der Youtuber niemanden „da oben“ erreicht. Dabei ist sie so einfach:

„Politische Parteien sind die essenziellen Vertreter von Bedürfnissen der Einwohner eines Landes. Sie sind es nicht, wenn sie sich aus ihrem Blickwinkel immer neue Verordnungen und Regelungen ausdenken und dafür Wähler suchen. Sie sind es auf keinen Fall, wenn sie lamentieren, dass das Volk sie offenbar nicht verstanden hätte. Sie müssen das Volk verstehen.“

Aber das glaubt kaum noch jemand, da draußen beim Volk. Ich habe mich sehr umgehört. Und man muss sich nicht wundern, wenn dann viele ältere Leute auf extreme, meist nationalistische und populistische Parteien umschwenken. Weil sie immer nur zu einfachem Denken erzogen wurden.
Und was lernt die Jugend? Guck mal, so ist das, wenn man wählen geht. Und nichts anderes haben die Youtuber gesagt. Geht für eure Zukunft wählen! Es ist alles so einfach und offenbar so schwer zu verstehen.
Schön wäre jetzt noch, die Plastikflut und die Biodiversität ins Visier zu nehmen.

1 https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-544163.html
2 https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ
3 https://www.ndr.de/info/podcast4096.html
4 Wer es nachlesen möchte: „Drogen, Sex und gute Laune“, AAA 2016, ca. 400 S., 64 Fotoseiten

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